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Noch ein Stockwerk höher war Pat Murphy mit seiner Familie gerade vom Abendessen in einem Restaurant wieder in Suite 725 zurückgekehrt. Der zwölfjährige Tim stand auf dem Balkon mit Ausblick auf den Park. »Können wir morgen zusammen auf das Denkmal klettern, Daddy«, bettelte er. »Bitte?«

»Nein«, widersprach sein jüngerer Bruder. »Ich will ins Smithsonian Institute.«

»In die Smithsonian Institution«, verbesserte der Vater.

»Ist doch egal. Ich will aber hin.«

Es war das erstemal, daß die Kinder in der Hauptstadt der Vereinigten Staaten von Amerika weilten, obwohl ihr Vater dort die Hälfte eines jeden Jahres verbrachte. Pat Murphy war - ein erfolgreicher - Lobbyist, der in Washington Kontakt zu einigen der wichtigsten Persönlichkeiten hatte.

Sein Vater war Bürgermeister einer kleinen Stadt in Ohio gewesen; Pat war mit der Politik großgeworden, und sie hatte ihn von jeher fasziniert. Sein bester Freund war damals ein Junge namens Joey. Die beiden waren zur gleichen Schule gegangen, hatten während des Sommers in Jugendlagern gemeinsam Ferien gemacht und alles miteinander geteilt. Sie waren, im wahrsten Sinne des Wortes, einer des andern bester Freund. Dann war mit einem Mal alles vorbei, als Joeys Eltern in einem Jahr während der Ferien verreisten, so daß er bei den Murphys wohnte. Da war Joey mitten in der Nacht in Pats Zimmer gekommen und zu ihm ins Bett gestiegen. »Pat«, flüsterte er. »Wach auf.« Pat riß die Augen auf. »Was? Was ist los?« »Ich bin so einsam«, flüsterte Joey. »Ich brauche dich.« Pat Murphy war völlig verwirrt. »Aber wozu?« »Verstehst du denn nicht? Ich liebe dich. Ich will dich.« Und dann hatte er Pat auf den Mund geküßt.

Und Pat dämmerte die furchtbare Erkenntnis, daß Joey homosexuell war. Es war Pat schlecht geworden, und er weigerte sich, je wieder mit Joey zu sprechen.

Pat Murphy haßte Homosexuelle. Sie waren für ihn Ausgeflippte, Schwule, gottverdammte Tunten, die es darauf abgesehen hatten, unschuldige Kinder zu verführen. Er steckte seinen Haß und Ekel in eine Kampagne gegen Homosexualität, bei

Wahlen gab er seine Stimme grundsätzlich nur Kandidaten mit antihomosexuellem Engagement, und er hielt Vorträge über die Übel und Gefahren der Homosexualität.

In der Vergangenheit war er immer allein nach Washington gereist; doch diesmal hatte seine Frau keine Ruhe gegeben und hartnäckig darauf bestanden, daß sie und die Kinder mitkamen.

»Wir möchten einmal sehen, wie dein Leben dort aussieht«, bat sie. Und Pat hatte sich schließlich in sein Schicksal ergeben.

Es ist ja sowieso fast das letzte Mal; dann werde ich sie nie mehr wiedersehen. Er betrachtete seine Frau und seine Kinder und dachte: Wie habe ich bloß einen so dummen Fehler machen können? Na schön, ich hab 's ja fast hinter mir. Frau und Kinder hatten für den morgigen Tag großartige Pläne geschmiedet. Doch es würde für sie kein Morgen mit ihm mehr geben. Wenn sie aufwachten, würde er längst im Flugzeug nach Brasilien sitzen.

Dort wartete Alan auf ihn.

In Suite 825, der Imperial Suite, herrschte totale Stille. Nun atme doch, befahl er sich. Du mußt jetzt ganz tief atmen ... langsamer, noch langsamer ... Er befand sich in Panikstimmung. Er betrachtete den schlanken, nackten Körper des Mädchens, das auf dem Boden lag, und redete sich ein: Es war doch nicht meine Schuld. Sie ist ausgerutscht.

Sie hatte sich beim Sturz gegen die scharfe Kante des schmiedeeisernen Tisches den Kopf angeschlagen, und von ihrer Stirn tropfte Blut. Er hatte ihren Puls gefühlt, doch sie hatte keinen Puls. Er konnte es nicht fassen. Einen Augenblick war sie noch so lebendig gewesen, und eine Sekunde später ...

Ich muß sie von hier wegschaffen. Unverzüglich! Er drehte sich um, von der Leiche weg, und kleidete sich mit Windeseile an. Dieser Vorfall würde nicht einfach bloß einen weiteren Skandal bedeuten. Es würde ein Skandal, der die Welt erschütterte. Ich muß auf jeden Fall verhindern, daß man mich mit dieser Suite in Verbindung bringt, ich darf keinerlei Spuren hinterlassen. Nach dem Ankleiden ging er ins Badezimmer, feuchtete ein Handtuch an und rieb sämtliche Flächen ab, die er möglicherweise berührt hatte.

Als er endlich überzeugt war, keine Fingerabdrücke hinterlassen zu haben, die seine Anwesenheit in der Suite hätten beweisen können, ließ er seinen Blick ein letztes Mal durch den Raum gleiten. Ihre Handtasche! Er nahm die Handtasche auf der Couch an sich und lief zum gegenüberliegenden Ende des Apartments, wo der Privatlift wartete.

Er trat hinein und versuchte, seinen Atem unter Kontrolle zu bringen. Er drückte die Taste G. Als sich wenige Sekunden später die Tür des Fahrstuhls öffnete, befand er sich in der Garage, die völlig verlassen dalag. Er machte sich auf den Weg zu seinem Wagen. Da fiel ihm plötzlich etwas ein, und er rannte wieder zum Lift und wischte seine Fingerabdrücke von den Knöpfen im Fahrstuhlinnern. Er hielt sich im Schatten, vergewisserte sich, daß er noch immer allein in der Garage war, ehe er endlich wieder zu seinem Wagen lief, sich ans Steuer setzte, nach kurzem Warten den Motor anließ und aus der Garage hinausfuhr.

Es war ein philippinisches Zimmermädchen, das die ausgestreckte Leiche des Mädchens auf dem Boden entdeckte.

»O Dios ko, kawawa naman iyong babae!« Sie bekreuzigte sich und rannte, laut um Hilfe rufend, aus dem Zimmer.

Drei Minuten später stand Jeremy Robinson mit Thom Peters, dem Sicherheitschef des Hotels, in der Imperial Suite fassungslos vor der nackten Mädchenleiche.

»Herrgott«, stieß Thom entsetzt hervor. »Sie ist ja höchstens sechzehn oder siebzehn Jahre alt.« Er wandte sich dem Hoteldirektor zu. »Da müssen wir wohl die Polizei benachrichtigen.«

»Warten Sie!« Polizei. Die Presse. Öffentlichkeit. Einen Moment lang dachte Robinson tatsächlich über eine Möglichkeit nach, die Leiche des Mädchens unbemerkt aus dem Hotel hinauszuschaffen. »Es geht wohl nicht anders«, räumte er schließlich widerstrebend ein.

Thom Peter zog sein Taschentuch heraus, bevor er den Hörer abnahm.

»Was soll das?« fragte Robinson unwirsch. »Wir befinden uns doch nicht am Tatort eines Verbrechens. Es handelt sich um einen Unfall.«

»Das steht keineswegs fest, oder?« warnte Peters.

Er wählte die Nummer und wartete. »Das Morddezernat bitte.«

Detective Nick Reese schien völlig dem Klischee eines Kriminalbeamten zu entsprechen, der genau weiß, wo's langgeht: ein großgewachsener, muskulöser Mann mit einer gebrochenen Nase - das Souvenir einer frühen Laufbahn als Boxer -, der in Washington als Streifenpolizist bei der Metropolitan Police angefangen und sich von der Pike auf langsam bis zum Lieutenant emporgearbeitet hatte, um schließlich vom Rang eines Detective D1 zum Detective D2 befördert zu werden. Er hatte im Laufe des letzten Jahrzehnts mehr Fälle gelöst als jeder andere Kollege in seinem Dezernat.

Detective Reese stand regungslos da, während er den Tatort in Augenschein nahm. Außer ihm befand sich noch eine Handvoll Männer in der Suite. »Hat jemand die Leiche ange-faßt?«

Robinson erschauerte. »Nein.«

»Wer ist sie?«

»Ich weiß es nicht.«

Reese nahm den Hoteldirektor ins Visier. »Da wird ausgerechnet in der Imperial Suite Ihres Hotels ein junges Mädchen tot aufgefunden, und Sie haben keine Ahnung, wer sie ist? Hat dieses Hotel etwa kein Gästebuch?«

»Selbstverständlich führen wir ein Gästebuch, Detective. Doch in diesem Fall .« Er hielt inne.