Stephen Baxter
Zeitschiffe
Für meine Frau Sandra
und in Angedenken an H. G.
Anmerkung des Herausgebers
Den beiliegenden Bericht erhielt ich vom Inhaber eines kleinen Antiquariats in unmittelbarer Nähe der Londoner Charing Cross Road. Wie er mir sagte, hatte er diese Seiten als Manuskript in einer unbeschrifteten Schachtel erhalten, die zu einer Bücherkollektion gehörte, welche ihm nach dem Tod eines Freundes vermacht worden war. Der Buchhändler gab dieses Manuskript als eine Kuriosität an mich weiter — ›Vielleicht können Sie etwas damit anfangen‹ —, denn er wußte von meinem Interesse an den spekulativen Romanen des neunzehnten Jahrhunderts.
Das Manuskript selbst war auf ganz normalem Papier getippt, aber aus einem handschriftlichen Vermerk ging hervor, daß es von einem Original abgetippt worden war, ›das mit der Hand auf einem derart alten Papier geschrieben war, daß es schon am Zerfallen war‹. Dieses Original, falls es jemals existiert haben sollte, war verschollen. Es gibt keinen Hinweis auf den Autor dieses Manuskripts oder seine Herkunft.
Ich habe mich bei der Durchsicht auf oberflächliche Revisionen beschränkt, nur um einige Fehler und Duplizitäten eines Manuskriptes zu korrigieren, das offensichtlich in Eile erstellt worden war.
Aber was fangen wir nun damit an? Im Jargon des Zeitreisenden müssen wir es ›als eine Lüge — oder eine Prophezeiung interpretieren… Es wäre ja auch denkbar, daß ich über das Schicksal unserer Rasse spekuliert und schließlich dieses Manuskript ausgebrütet hätte… ‹ Ohne nähere Beweise müssen wir dieses Werk als Fantasy betrachten — oder als einen geschickten Schwindel — wenn aber auch nur ein Körnchen Wahrheit in diesen Seiten ist, dann eröffnen sich ungeahnte Perspektiven, nicht nur hinsichtlich eines unserer bekanntesten Romane (wenn es denn ein Roman war!), sondern auch in bezug auf die Natur unseres Universums und unseren Platz darin.
Ich lege diesen Bericht jetzt ohne weiteren Kommentar vor.
Stephen Baxter
Im Juli 1994
Prolog
Am Freitagmorgen nach meiner Rückkehr aus der Zukunft erwachte ich lange nach Sonnenaufgang aus einem tiefen und traumlosen Schlaf.
Ich stieg aus dem Bett und riß die Vorhänge zurück. Die Sonne begab sich an ihren üblichen langsamen Aufstieg über den Himmel, und ich erinnerte mich, wie die Sonne aus der Perspektive eines Zeitreisenden schier über den Himmel gesprungen war! Aber jetzt, so schien es, war ich wieder in der dahintröpfelnden Zeit eingefangen, wie ein Insekt in zähflüssigem Bernstein.
Die Geräusche eines ganz normalen Morgens in Richmond sammelten sich unter meinem Fenster: die klappernden Hufe von Pferden, das Rattern von Rädern auf dem Kopfsteinpflaster, das Zuschlagen von Türen. Eine Dampfstraßenbahn fuhr rauchspeiend und funkensprühend die Petersham Road entlang, und die möwenartigen Schreie von Hausierern schnitten durch die Luft. Meine Gedanken schweiften von den spannenden Abenteuern in der Zeit ab und begaben sich auf ein prosaischeres Niveau: Ich rekapitulierte den Inhalt der letzten Pall Mall Gazette und die Aktienkurse und überlegte, daß mit der Morgenpost vielleicht das aktuelle American Journal of Science kommen würde, das einige meiner Kommentare zu den Untersuchungen von A. Michelson und E. Morley bezüglich gewisser Eigenschaften des Lichts abdrucken würde, die bereits vor vier Jahren in diesem Journal veröffentlicht worden waren, im Jahre 1887…
Und so weiter! Die Alltagsdetails drängten sich in meinem Kopf, und im Kontrast hierzu erschienen mir meine Abenteuer in der Zukunft bald phantastisch — sogar absurd. Wenn ich jetzt so darüber nachdachte, kam es mir vor, als ob all diese Erfahrungen die Qualität einer Halluzination, ja sogar eines Traumes hätten: da war dieser Eindruck gewesen, kopfüber zu fallen, eine völlig verschwommene Wahrnehmung, und schließlich der Sturz in die alptraumhafte Welt des Jahres 802701 n. Chr. Es ist schon bemerkenswert, wie der Alltag unsere Vorstellungen dominiert — wie ich hier im Schlafanzug stand, überkam mich wieder etwas von der Unsicherheit, die mich bereits am letzten Abend ergriffen hatte, und ich begann sogar an der Existenz der Zeitmaschine zu zweifeln! — trotz der kristallklaren Erinnerung an die zwei Jahre meines Lebens, die ich in ihren Eingeweiden verbracht hatte, ganz zu schweigen von den davorliegenden zwei Jahrzehnten, in denen ich die Theorie der Zeitreise aus Anomalien entwickelt hatte, die mir an Forschungen zur optischen Physik aufgefallen waren.
Ich dachte an die Unterhaltung mit meinen Kollegen beim letzten Abendessen — irgendwie standen diese wenigen Stunden jetzt viel prägnanter in meiner Erinnerung als all die Tage, die ich in dieser Welt der Zukunft verbracht hatte — und ich erinnerte mich an die unterschiedlichen Kommentare zu meinem Bericht: man hatte allenthalben sein Wohlgefallen für eine gute Story kundgetan, das je nach individuellem Temperament von Sympathiebekundungen oder kaum verhohlenem Spott begleitet wurde — und, wie ich mich erinnere, mit einer fast grenzenlosen Skepsis. Nur ein guter Freund, den ich im folgenden als den Schriftsteller bezeichnen werde, schien meine Ausführungen mit einem Mindestmaß an Sympathie und Glauben verfolgt zu haben.
Ich stand am Fenster und reckte mich — und schlagartig verschwanden die Zweifel hinsichtlich meines Gedächtnisses! Die Rückenschmerzen waren real genug — heftig und stechend — wie das Brennen in den Arm- und Beinmuskeln: ein Protest der Muskulatur eines nicht mehr jungen Mannes, die im untrainierten Zustand zu sportlicher Aktivität gezwungen wurden. »Nun gut«, sagte ich zu mir selbst, »wenn unsere Reise in die Zukunft wirklich nur ein Traum gewesen war; alles, einschließlich jener düsteren Nacht, als ich die Morlocks im Wald fand — woher kommt dann dieser Muskelkater? Sind wir vielleicht als Schlafwandler im Garten herumgestolpert?«
Und dann sah ich in einer Ecke des Zimmers einen kleinen Haufen achtlos hingeschmissener Kleidung: es waren die Sachen, die ich auf meinem Flug in die Zukunft verschlissen hatte und die jetzt nur noch gut für den Reißwolf waren. Ich erkannte Grasflecken und Brandspuren; die Taschen waren zerrissen, und ich erinnerte mich, wie Weena diese Lumpen als Vase zweckentfremdet hatte, um die bläßlichen Blumen der Zukunft darin unterzubringen. Meine Schuhe waren natürlich nicht mehr da — ich dachte mit einem merkwürdigen Anflug des Bedauerns an die bequemen, treuen alten Hausschuhe, die ich gedankenlos in die Zukunft mitgenommen hatte, bevor ich sie einem unvorstellbaren Schicksal überließ! — und dort, auf dem Teppich, lagen die schmutzigen, blutbefleckten Überreste meiner Socken.
Irgendwie waren es diese Socken — diese komischen, löchrigen alten Socken! — deren unästhetische Existenz mich davon überzeugte, daß ich noch nicht verrückt war, daß mein Flug in die Zukunft nicht nur ein Traum gewesen war.
Ich erkannte, daß ich wieder in die Zeit zurück mußte; ich mußte Beweismaterial dafür sammeln, daß mein Ausflug in die Zukunft genauso real gewesen war wie das Richmond des Jahres 1891, um sowohl meinen Freundeskreis als auch meine Wissenschaftlerkollegen zu überzeugen — und die letzten Spuren des Selbstzweifels zu beseitigen. Als ich diesen Entschluß faßte, sah ich plötzlich das liebliche, leere Gesicht von Weena, so lebendig, als ob sie direkt vor mir gestanden hätte. Traurigkeit und eine Woge des Schuldgefühls wegen meiner Unüberlegtheit fuhren durch mein Herz. Weena, die Kindfrau der Eloi, war mir zum Grünen Porzellanpalast gefolgt, durch die Tiefen des sich wieder ausbreitenden Waldes dieses weit in der Zukunft liegenden Themse-Tals, und galt seit der Verwirrung durch das anschließende Feuer und die hinterhältigen Angriffe der Morlocks als vermißt. Ich bin schon immer jemand gewesen, der erst handelt und dann den Verstand zuschaltet! In meiner Junggesellenzeit hatte diese Neigung niemanden in ernsthafte Schwierigkeiten gebracht, außer mich selbst — aber jetzt, in meiner gedankenlosen und überstürzten Hetzjagd, hatte ich die arme und mir vertrauende Weena einem gräßlichen Tod in den Schatten jener dunklen Nacht der Morlocks überantwortet.