Aber bald verdrängte ich solche konfusen Gedanken! Ich kam zu dem Schluß, daß ich in viel zu engen Bahnen dachte: ich berücksichtigte nämlich nicht die Infinität der Dinge. Weil dieses Universum unendlich alt war — und das Leben hier schon unendlich lange existierte — gab es auch keinen Beginn des Zyklus, mit dem das Leben die Bedingungen für seine eigene Existenz sicherte. Das Leben existierte hier, weil das Universum lebensfähig war; und das Universum war lebensfähig, weil hier Leben existierte, um die Bedingungen dafür zu schaffen… und so fort, eine infinite Regression, ohne Anfang — und ohne Paradoxie!
Ich empfand Heiterkeit über meine Konfusion. Es hatte ganz den Anschein, als ob es noch einige Zeit dauern würde, bis ich mir die Bedeutung der Begriffe Unendlichkeit und Ewigkeit voll erschlossen hatte!
Der Triumph des Geistes
Mein Beobachter hielt an und rotierte im Raum wie ein fleischiger Ballon. Diese großen Augen schwenkten auf mich ein, dunkel, riesig, wobei das Leuchten des lichtüberfluteten Himmels untertassengroß von den Pupillen reflektiert wurde; schließlich hatte ich den Eindruck, als ob meine Welt völlig von diesem immensen, zwingenden Blick ausgefüllt sei und alles andere ausgeblendet wurde — selbst der feurige Himmel…
Aber dann schien der Beobachter zu schmelzen. Die verstreuten, entfernten Konstellationen, die schaumige galaktische Struktur — sogar das Lodern des brennenden Himmels — ich sah nichts mehr davon — oder vielmehr interpretierte ich diese Dinge durchaus noch als Aspekte der Realität, aber eben nur am Rande. Wenn man sich vorstellt, den Blick auf eine Fensterscheibe vor sich zu fixieren — und dann bewußt die Muskulatur des Auges entspannt, sich auf die Landschaft draußen konzentriert, so daß der Schmutz an diesem Fenster aus dem Bewußtsein verschwindet — dann kann man in etwa den von mir geschilderten Effekt nacherleben.
Natürlich wurde die Veränderung meiner Wahrnehmung aber durch nichts weniger als die Augenmuskulatur verursacht, und bei dieser Verschiebung der Perspektive war noch weit mehr als nur die Brennweite involviert.
Ich bekam — oder zumindest glaubte ich das — Einblick in die Strukturen der Natur.
Ich sah Atome: Lichtpunkte, wie kleine Sterne, die den Raum in einer mich umfassenden, endlosen Konfiguration ausfüllten — ich sah das alles so deutlich, wie ein Arzt vielleicht das Rippenmuster unter der Haut eines Patienten untersucht. Die Atome flitzten funkelnd umher; sie rotierten um ihre kleinen Achsen und wurden von einem komplexen Netzwerk aus Lichtfäden miteinander verbunden — oder so kam es mir wenigstens vor; ich realisierte, daß ich wohl irgendeiner graphischen Präsentation elektrischer, magnetischer, gravitationaler und sonstiger Kräfte beiwohnte. Es schien, als ob eine Art atomares Uhrwerk das Universum ausfüllte — und ich erkannte, daß die ganze Sache dynamisch war, wobei sich die Muster der Verknüpfungen und Atome ständig verschoben.
Die Bedeutung dieser bizarren Vision war mir sofort klar, denn hier sah ich eine Fortsetzung der Regelmäßigkeit, die ich bereits bei den Galaxien und Sternen beobachtet hatte. Ich konnte — indem ich in jeden Grashalm, jedes einzelne Atom eindrang — Bedeutung und Struktur erkennen. Die Orientierung eines jeden Atoms, die Richtung seines Spins und die Bindungen mit seinen Nachbarn hatte einen bestimmten Sinn. Es war, als ob das Universum, in seiner Gesamtheit, sich in eine Art Bibliothek verwandelt hätte, in der das kollektive Wissen dieser alten Variante der Menschheit gespeichert war; jedes Materiepartikel, bis hinunter zum letzten Strohhalm, war offensichtlich katalogisiert und nutzbar gemacht worden… Genauso, wie Nebogipfel vorhergesagt hatte!
Aber dieses Arrangement war mehr als nur eine Bibliothek — mehr als eine passive Kollektion verstaubter Daten — denn das alles vermittelte mir einen Eindruck von Lebendigkeit und Aktivität. Es war, als ob diese riesigen Materieballungen mit Bewußtsein imprägniert worden wären.
Intelligenz erfüllte dieses Universum und durchtränkte seine ganze Struktur! — Ich glaubte sehen zu können, wie Gedanken und Bewußtsein in großen Wellen über dieses Universallexikon brandeten. Der Maßstab dieser ganzen Angelegenheit erstaunte mich — ihre grenzenlose Natur überstieg mein Fassungsvermögen — im Vergleich hierzu war meine eigene Spezies auf die äußere Schale eines unbedeutenden Planeten beschränkt gewesen, die Morlocks auf ihre Sphäre; und selbst die Konstrukteure hatten nur eine Galaxie kontrolliert — ein einziges Sternen-System von vielen Millionen…
Hier jedoch war die Intelligenz unumschränkter Herrscher — eine Infinität.
Jetzt begriff ich — ich sah es nämlich selbst — die Bedeutung und den Sinn der Unendlichkeit und des ewigen Lebens.
Das Universum war unendlich alt und unendlich weit; und auch die Intelligenz war unendlich alt. Der Geist hatte sich jegliche Materie und Kräfte Untertan gemacht und einen unendlichen Betrag an Informationen gespeichert, einschließlich aller Wissenskomponenten, die man sich nur vorstellen konnte.
Der Geist war hier allwissend, allmächtig und allgegenwärtig. Die Konstrukteure hatten durch ihre kühne Reise zum Anfang der Zeit ihr Ideal verwirklicht, die Endlichkeit transzendiert und die Unendlichkeit kolonisiert.
Die Atome und Kräfte traten in den Hintergrund meiner aktuellen Aufmerksamkeit, und mein Blickfeld füllte sich erneut mit dem endlosen Licht und den Sternenkonstellationen dieses Kosmos. Der mich begleitende Beobachter war jetzt verschwunden, und ich hing allein hier, körperlos und langsam rotierend. Das Sternenlicht hüllte mich ein, tief und unendlich: ich wurde mir der Bedeutungslosigkeit der Dinge bewußt, der Kleinheit meiner Person, der Irrelevanz meiner nichtigen Sorgen. Ich begriff, daß es in einem unendlichen und ewigen Universum keinen Mittelpunkt geben kann; es kann keinen Anfang und kein Ende geben. Jedes Ereignis, jeder Punkt, ist aufgrund der Unendlichkeit des Raums, in dem sie positioniert sind, mit allen anderen identisch… In einem infiniten Universum war ich infinitesimal geworden…
Ich hatte noch nie eine poetische Ader gehabt, aber nun erinnerte ich mich an einen Vers von Shelley: wie ›Leben, Leben wie eine Kuppel aus buntem Glas/ das weiße Leuchten der Ewigkeit befleckt…‹ usw. Nun, ich hatte jetzt mit dem Leben abgeschlossen; die körperliche Hülle, die seichte Illusion der Materie selbst — all das war mir genommen worden, vielleicht für immer, in diesem weißen Leuchten, von dem Shelley sprach.
Für eine Weile befand ich mich im Zustand eines ganz besonderen Friedens. Als ich zum erstenmal beobachtet hatte, wie meine Zeitmaschine die Entwicklung der Geschichte beeinflußte, war ich zu der Überzeugung gelangt, daß diese Erfindung ein Gerät des Absolut Bösen war, wegen der willkürlichen Vernichtung und Verzerrung von Historien — wegen der Eliminierung von Millionen ungeborener Seelen, die durch eine leichte Bewegung meiner Steuerhebel ausgelöscht wurden. Doch jetzt erkannte ich schließlich, daß die Zeitmaschine eben keine Historien zerstört hatte; vielmehr hatte sie welche erschaffen. Alle möglichen Historien existieren in der größeren Multiplizität und sind in einem endlosen Katalog des ›Was-Sein-Kann‹ zusammengestellt. Jede Historie, die möglich war, mit ihrem ganzen Überbau aus Verstand, Liebe und Hoffnung, existierte irgendwo in der Multiplizität.
Aber es war nicht so sehr die Realität der Multiplizität an sich, sondern vielmehr das, was sie für das Schicksal der Menschen bedeutete, die mich jetzt bewegten.
Die Menschheit — so hatte ich immer den Eindruck gehabt, seit ich zum erstenmal Darwin gelesen hatte — war in einem Konflikt gefangen gewesen: zwischen den Hoffnungen ihrer Seele, die in erhabener und grenzenloser Höhe schwebte, und den Zwängen ihrer physikalischen Natur, die letztlich ihren Untergang bedeuten konnten. Ich glaubte bei den Eloi gesehen zu haben, wie die tote Hand der Evolution — das Vermächtnis des Tiers in uns — schließlich die Träume der Menschheit zerstörte und ihre Präsenz auf der Erde zu einem kurzen, glorreichen Funken des Intellekts reduzierte.