Aber in den meisten Bereichen hatte die Technologie der Sphäre eine Ausprägung des wahrhaft Universalen Wahlrechts ermöglicht, in dem die Bevölkerung mittels ihrer Maschinen und blauen Fenster über den aktuellen Diskurs auf dem laufenden gehalten wurden und ihre Präferenzen zu jedem Thema dann sofort auf ähnliche Art verlauten ließ. Es existierte also eine Art Basisdemokratie, wobei jede größere Entscheidung von der kollektiven Laune der gesamten Bevölkerung abhing.
Ich hatte wenig Vertrauen in ein derartiges System. »Aber es gibt doch auch sicher einige in der Bevölkerung, die man nicht mit einer solchen Autorität ausstatten kann! Was ist z. B. mit den Geisteskranken oder geistig Minderbemittelten?«
»Bei uns gibt es keine solchen Schwächen«, klärte er mich mit einer gewissen Pikiertheit auf.
Mir war danach, ein bißchen an seinem Utopia zu kratzen — selbst hier, im Zentrum dieses Utopia! »Und wie gewährleistet ihr das?«
Er ließ sich mit der Antwort Zeit. »Jedes Mitglied unserer erwachsenen Bevölkerung ist rational«, dozierte er statt dessen weiter, »und in der Lage, Entscheidungen für andere mitzutreffen — und das erwartet man auch von ihm. Unter solchen Umständen ist die Reinform der Demokratie nicht nur möglich, sondern nachgerade geboten — wegen der durch die Kombination der geistigen Potentiale generierten Synergieeffekte.«
Ich schnaufte. »Was sollen dann all die anderen Parlamente und Senate, die du beschrieben hast?«
»Nicht jeder ist der Ansicht, daß die Strukturen in diesem Teil der Sphäre ideal sind«, meinte er. »Macht das aber nicht gerade das Wesen der Freiheit aus? Nicht alle von uns interessieren sich so für die Mechanismen der Politik, daß sie sich daran beteiligen wollen; und manche ziehen es eben vor, ihre Macht nach dem Prinzip der Repräsentation an andere zu übertragen — oder sogar ganz ohne Repräsentation auszukommen. Das ist eine zulässige Entscheidung.«
»Schön. Aber was geschieht, wenn diese Entscheidungen zu Konflikten führen?«
»Wir haben Platz«, erwiderte er gewichtig. »Du darfst diese Tatsache nicht vergessen; du denkst nämlich nach wie vor nur in planetarischen Dimensionen. Es steht jedem Dissidenten frei, zu gehen, und woanders ein anderes System zu etablieren…«
Diese Morlock-›Nationen‹ waren flüchtige Gebilde, deren Angehörige nach Lust und Laune kamen und gingen. Soweit ich es erkennen konnte, gab es weder klar definierte Territorien oder Besitzstände noch festgelegte Grenzen; die ›Nationen‹ waren lediglich reine Interessenverbände, die sich über die Sphäre verteilten.
Die Morlocks kannten keinen Krieg.
Es dauerte eine Weile, bis ich das glaubte, aber schließlich war ich überzeugt. Es gab nämlich keinen Anlaß für einen Krieg. Dank der Mechanismen des Bodens gab es keine Versorgungsengpässe, so daß keine Nation eine Rechtfertigung für einen Wirtschaftskrieg gehabt hätte. Die Sphäre war so riesig, daß freies Land praktisch unbegrenzt zur Verfügung stand, wodurch auch Territorialkämpfe hinfällig wurden. Und — was am wichtigsten war — die Köpfe der Morlocks waren frei vom Gift der Religion, das über die Jahrhunderte so viele Konflikte verursacht hat.
»Ihr habt also keinen Gott«, unterstellte ich Nebogipfel mit einer gewissen Spannung: obwohl ich selbst einen gewissen Hang zur Religiosität verspüre, stellte ich mir vor, wie ich die Kleriker meiner Tage mit einer Wiedergabe dieser Unterhaltung hätte schockieren können!
»Wir brauchen keinen Gott«, entgegnete Nebogipfel patzig.
Die Morlocks betrachten eine religiöse Disposition — im Gegensatz zu einer rationalen Einstellung — als ein Merkmal, das von den Eltern geerbt, an die Kinder weitervererbt und durch die Kräfte der natürlichen Selektion modifiziert wird, mit keiner größeren intrinsischen Bedeutung als blaue Augen oder braunes Haar.
Je weiter Nebogipfel seine Maxime vertiefte, desto sinnvoller erschien sie mir.
Welche Vorstellung von Gott hat sich im Laufe der geistigen Entwicklung der Menschheit überhaupt noch gehalten? Nun, exakt die Vorstellung, die der Menschheit am besten ins Konzept paßte: ein Gott mit enormer Macht und dennoch auch mit Sinn für die Alltagssorgen der Menschen. Warum einen unnahbaren Gott verehren, selbst wenn er allmächtig wäre, wenn er sich nicht für die kleinlichen Streitereien der Menschen interessierte?
Man könnte meinen, daß in jedem Konflikt zwischen rationalen Menschen und religiösen Menschen die Rationalität obsiegen würde. Schließlich war sie es ja auch gewesen, die das Schießpulver erfunden hatte! Und doch — zumindest bis in unser neunzehntes Jahrhundert hinein — hatte generell die religiöse Tendenz die Oberhand behalten und uns eine Herde frömmelnder Schafe beschert, die — wie es mir zuweilen schien — von jedem glattzüngigen Prediger verführt werden konnte.
Dieses scheinbare Paradoxon erklärt sich dadurch, daß die Religion den Menschen ein Ziel bietet, für das sie kämpfen können. Der religiöse Mensch wird ein Stück ›geheiligtes‹ Land mit seinem Blut tränken und weit mehr opfern als nur den intrinsischen ökonomischen oder sonstigen Wert des Landes.
»Wir haben dieses Paradoxon jedoch aufgelöst«, sagte Nebogipfel zu mir. »Wir haben unser genetisches Erbe in den Griff bekommen: wir unterliegen nicht mehr dem Diktat der Vergangenheit, weder körperlich noch geistig…«
Aber ich verfolgte diesen interessanten Aspekt nicht weiter — weil die Frage, die es zu stellen galt, nämlich so lautete: »Worin liegt dann der Sinn eures Lebens, wenn es keinen Gott mehr gibt?« —, denn ich war von der Vorstellung gefangen, wie Mr. Darwin, mit all seinen Kritikern aus den Kirchen, diesen letztendlichen Triumph seiner Ideen über die Frömmler wohl genossen hätte!
Und wirklich — wie es sich herausstellte — setzte mein Verständnis des eigentlichen Sinns der Zivilisation der Morlocks nur wenig später ein.
Generell war ich beeindruckt von dem, was ich von dieser künstlichen Welt der Morlocks zu sehen bekam — selbst wenn ich mir nicht sicher bin, ob sich dieser Respekt auch in meinem vorliegenden Bericht niederschlägt. Dieser Stamm der Morlocks hatte in der Tat seine erblichen Schwächen ausgemerzt; sie hatten das Vermächtnis der Wildheit — unser Vermächtnis — abgeschüttelt und dadurch eine Stabilität erreicht, die sich die Menschheit des Jahres 1891 kaum hätte vorstellen können: ein Mensch wie ich, der in einer Welt aufgewachsen ist, die täglich durch Krieg, Habgier und Inkompetenz zerrissen wurde.
Und diese Bewältigung ihrer eigenen Natur war um so beeindruckender für mich durch ihren Kontrast zu diesen anderen Morlocks — Weenas Morlocks —, die ganz offensichtlich Opfer ihres inneren Schweinehunds geworden waren, ungeachtet ihrer mechanischen und sonstigen Kompetenz.
Konstruktionen und Divergenzen
Ich erörterte mit Nebogipfel die Konstruktion der Sphäre. »Ich nehme an, daß die Riesenplaneten — Jupiter und Saturn — auf der Grundlage großer Konstruktionspläne demontiert wurden und…«
»Nein«, tat Nebogipfel das ab. »Es gab keinen solchen Plan; die ursprünglichen Planeten — von der Erde nach außen — umkreisen noch immer das Herz der Sonne. Nicht einmal alle Planeten zusammen hätten die Substanz erbringen können, um mit der Konstruktion einer so großen Entität wie der Sphäre auch nur zu beginnen.«
»Wie dann…?«
Nebogipfel beschrieb, wie die Sonne von einer großen Flotte Raumschiffe eingekreist wurde, die immense Magnete mitführten, deren Konzeption — elektrische Schaltkreise, deren Widerstand irgendwie auf Null gebracht wurde — ich nicht nachvollziehen konnte. Die Raumer umkreisten die Sonne mit zunehmender Geschwindigkeit und legten einen magnetischen Gürtel um den eine Million Meilen durchmessenden Äquator des Sterns. Und — als ob dieser große Stern nicht mehr als eine weiche Frucht wäre, die mit einer Hand zerdrückt wurde — zwangen sie große Brocken der Sonnenmaterie, die ihrerseits selbst magnetisch ist, aus der Äquatorzone heraus und schöpften die Materie an den Magnetpolen der Sonne ab.