»Oh — ich weiß nicht, ob ich das will!« winkte ich ab. »Nebogipfel, ich bin von diesem Ort überwältigt, dieser Welt aller Welten. Ich möchte erst alles gesehen haben, bevor ich mich entscheide, wo ich mein Leben verbringen werde. Kannst du das verstehen?«
Er diskutierte diesen Vorschlag nicht; vielmehr schien er aus dem Licht verschwinden zu wollen. »Sehr gut. Halte dich in der Nähe der Plattform auf. Wenn du willst, daß ich erscheine, begib dich in ihren Mittelpunkt und rufe meinen Namen.«
Und so begann mein einsamer Ausflug in das Innere der Sphäre.
In dieser Welt der ewigen Nacht gab es keinen Tag-Nacht-Rhythmus, anhand dessen man den Verlauf der Zeit hätte ermitteln können. Wenigstens hatte ich noch meine Taschenuhr: die von ihr angezeigte Zeit hatte wegen meiner Reisen durch Raum und Zeit zwar keine Bedeutung, half mir aber immerhin, Vierund-zwanzigstunden-Perioden zu definieren.
Nebogipfel hatte auf der Plattform einen Unterstand entstehen lassen — eine schlichte, viereckige Hütte mit einem Fenster und einer Tür, die sich auf die schon beschriebene Art öffnete. Er hatte mir auch ein Tablett mit Essen und Wasser bereitgestellt und zeigte mir, wie ich für Nachschub sorgen konnte: Ich mußte das Tablett wieder in die Oberfläche der Plattform hineindrücken — das war wirklich ein seltsames Gefühl — und nach wenigen Sekunden erschien dann ein anderes, vollbeladenes Tablett auf der Oberfläche. Dieser unnatürliche Vorgang verursachte mir Übelkeit, aber ich hatte keine andere Nahrungsmittelquelle und unterdrückte daher mein Unbehagen. Nebogipfel zeigte mir auch, wie ich Gegenstände in den Boden schieben mußte, um sie zu säubern; er wandte diese Technik sogar bei seinen Händen an. Ich nutzte diese Möglichkeit, meine Kleidung und Stiefel zu reinigen — die Hose wurde völlig faltenfrei wieder ausgeliefert! — aber ich konnte mich nicht dazu überwinden, irgendeinen Teil meines Körpers auf diese Art zu behandeln. Der Gedanke, eine Hand oder einen Fuß — oder noch schlimmer, das Gesicht — in diese klare Fläche zu stecken, war mehr, als ich verkraften konnte, und ich benutzte weiterhin Wasser zum Waschen.
Ich verfügte indessen nach wie vor nicht über Rasierzeug und hatte schon einen schönen Vollbart entwickelt — aber er war eine deprimierende feste Masse aus Eisengrau.
Nebogipfel zeigte mir, wie ich die Einsatzmöglichkeiten meiner Brille erweitern konnte. Indem ich die Gläser auf eine bestimmte Art berührte, konnte ich entfernte Objekte stark vergrößern lassen und sie nahe und lebensecht heranholen. Sofort setzte ich die Brille auf und fokussierte sie auf den entfernten Schatten, den ich für eine Bauminsel gehalten hatte. Er erwies sich dann aber nur als ein Felsen, der ziemlich verwittert bzw. geschmolzen wirkte.
Die ersten Tage genügte es mir, einfach nur da zu sein, in diesem geschundenen Grasland. Ich begab mich auf lange Wanderungen; ich zog die Stiefel aus und erfreute mich an dem Gefühl von Gras und Sand zwischen den Zehen, und oft entkleidete ich mich im heißen Sonnenlicht bis auf die Hose. Bald war ich richtig schokoladenbraun geworden — obwohl ich auf der Stirn unter dem zurückweichenden Haaransatz einen ziemlichen Sonnenbrand bekommen hatte — es war wie ein Kuraufenthalt in Bognor!
Abends zog ich mich in meine Hütte zurück. Bei geschlossener Tür war es recht gemütlich da drin, und ich schlief gut, mit zu einem Kissen zusammengerollter Jacke und der warmen Elastizität der Plattform unter mir.
Den überwiegenden Teil meiner Zeit verbrachte ich damit, das Innere mit der Vergrößerungsoptik meiner Brille zu inspizieren. Ich saß am Rand der Plattform oder lag mit dem Kopf auf der Jacke auf einem weichen Grasabschnitt und beobachtete den komplexen Himmel.
Der meiner Position entgegengesetzte Teil des Inneren mußte im Äquatorbereich der Sphäre liegen; und so stellte ich mir vor, daß diese Region am erdähnlichsten wäre — mit der stärksten Gravitation und der höchsten Luftdichte. Dieser Zentralgürtel war vergleichsweise schmal — nicht breiter als einige Dutzend Millionen Meilen. (Ich sage so leichthin ›nicht breiten, aber ich weiß natürlich, daß die Erde vor diesem titanischen Hintergrund nicht mehr als ein bloßer Fleck wäre!) Jenseits dieses Zentrumsgürtels wirkte die Oberfläche mattgrau, schwierig zu differenzieren durch den Blaufilter des Himmels, und ich konnte nur wenige Details erkennen. In einer dieser Höhenregionen befand sich ein silbrig-weißer Fleck, in den in feinem Grau Meeresumrisse eingebettet waren, die mich irgendwie an den Mond erinnerten; und ein anderer Fleck aus Signalorange — in fast perfekter Ellipsenform —, dessen Natur ich nicht ermitteln konnte. Ich dachte an die degenerierten Morlocks, denen ich begegnet war und die aus den Niedergravitations-Regionen der äußeren Hülle stammten, weit weg vom Äquator; und ich fragte mich, ob sie vielleicht mutierte Menschen waren, die in diesen entfernten Weltkarten geringer Schwerkraft der höheren Breiten des Inneren lebten.
Als ich über diesen inneren, erdähnlichen Zentralgürtel nachdachte, kam mir die Vermutung, daß selbst dieser nur sehr dünn bevölkert war. Ich stellte mir vor, wie immense Ozeane und Wüsten, die ganze Welten verschlucken konnten, im endlosen Sonnenlicht glitzerten. Diese Abschnitte aus Land und Wasser trennten Insel-Welten voneinander: Regionen, die kaum größer als die Erde gewesen sein mochten und die man in ihrer ganzen Detailfülle abgehäutet und über diese Oberfläche gespannt hatte.
Hier sah ich eine Welt aus Gras und Wald, mit Städten aus funkelnden Gebäuden, die sich über die Bäume erhoben. Dort erkannte ich eine Eiswelt, deren Bewohner nach dem Vorbild meiner Ahnen in den europäischen Eiszeiten überleben mußten: vielleicht wurde diese Welt gekühlt, so dachte ich mir, indem man sie auf einer riesigen Plattform fixiert und damit über die Atmosphäre erhoben hatte. Auf einigen Welten sah ich auch Anzeichen von Industrie: ein komplexes Netz aus Städten, dunstigen Smog, von Brücken überspannte Buchten, das schaumige Kielwasser von Schiffen auf Binnenmeeren — und manchmal eine Dampfspur in der oberen Atmosphäre, von der ich annahm, daß sie von irgendeinem Fluggerät verursacht worden war.
So viele vertraute Eindrücke — aber manche Welten waren auch absolut fremdartig.
Mein Blick schweifte über Städte, die in der Luft schwebten, über ihrem eigenen Schatten; und riesige Gebäude, im Vergleich zu denen die Chinesische Mauer ein Gartenmäuerchen gewesen sein mußte, zogen sich durch künstliche Landschaften… Ich konnte mir nicht einmal ansatzweise das Äußere der Wesen vorstellen, die an einem solchen Ort lebten.
Eines Tages erwachte ich in relativer Dunkelheit. Eine große Wolkendecke hatte sich wie ein Deckel über das Land gelegt, und binnen kurzem setzte starker Regen ein. Es kam mir so vor, als ob das Wetter im Inneren der Sphäre reguliert würde — was ohne Frage auch auf alle anderen Aspekte ihrer Struktur zutraf —, denn ich konnte mir lebhaft die immensen zyklonischen Energien vorstellen, die durch die schnelle Rotation dieser riesigen Welt erzeugt werden mußten. Ich spazierte ein wenig im Regen umher und genoß den Geruch des frischen Wassers. Dank der Wolkendecke hatte der Ort jetzt viel mehr Ähnlichkeit mit der Erde, wobei die fremdartige Rückseite des Inneren und sein dubioser Horizont von Regen und Wolken verdeckt waren. Nach langen Beobachtungen mit der Teleskop-Brille hatte ich ermittelt, daß die grasbewachsene Ebene um mich herum genauso leer war, wie sie schon auf den ersten Blick gewirkt hatte. Eines Tages — es war klar und heiß — beschloß ich, diese felsige Wucherung aufzusuchen, die das einzige erkennbare Merkmal am sich neblig abzeichnenden Horizont war. Ich schnürte aus meiner strapazierten Jacke ein Bündel mit Proviant und Wasser und machte mich auf den Weg. Ich marschierte, bis ich müde wurde, und dann legte ich mich hin und versuchte zu schlafen. Aber ich konnte keine Ruhe finden, nicht unter dem Licht der Sonne, und nach ein paar Stunden gab ich es auf. Ich ging noch ein Stück weiter, aber der Felsen schien nicht näherzurücken, und ich begann Angst zu verspüren, so weit von der Plattform entfernt. Was, wenn mich Erschöpfung überkäme oder ich verletzt würde? Ich wäre dann niemals in der Lage, Nebogipfel herbeizurufen und würde damit jegliche Aussicht auf eine Rückkehr in meine eigene Zeit verwirken: Ich würde dann wie eine verwundete Gazelle im Gras verenden. Und das alles wegen einer Exkursion zu einem nichtssagenden Felsbrocken! Mit dem Gefühl, ein Narr zu sein, machte ich kehrt und strebte wieder der Plattform zu.