Ich erinnerte mich mit Unbehagen an ein Streiflicht aus meiner Kindheit. Mein Elternhaus war groß, aber verschachtelt — und deshalb mit geringem Wohnwert —, und es verfügte über unterirdische Gänge, die vom Haus zu den Stallungen, Wirtschaftsgebäuden etc. führten: solche Passagen waren üblich bei den Häusern jener Zeit. In regelmäßigen Abständen waren schwarzlackierte, runde Gitter in den Boden eingelassen, welche die zu den Gängen führenden Belüftungsschächte abdeckten. Ich erinnerte mich jetzt an die Angst, die ich als Kind vor diesen in den Boden getriebenen Gruben gehabt hatte. Vielleicht waren es wirklich nur schlichte Belüftungsschächte gewesen; aber was, wenn sich die Einflüsterungen meiner kindlichen Phantasie bewahrheitet und sich eine knöcherne Hand zwischen diesen Stäben hindurchgeschoben und mich am Knöchel gepackt hätte?
Jetzt fiel mir auf — ich vermute, daß etwas an Nebogipfels vorsichtiger Pose das alles ausgelöst hatte —, daß tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit zwischen diesen Luftschächten meiner Kindheit und den unheimlichen Quellen der Morlocks bestand… War das am Ende der Grund, weshalb ich im Jahre 657208 dieses Morlockkind derart mißhandelt hatte?
Ich bin kein Mensch, der sich gerne mit den Untiefen seines Charakters konfrontiert sieht! Ziemlich unfair pöbelte ich Nebogipfel an: »Ich dachte eigentlich, daß ihr Morlocks die Dunkelheit liebt!« Dann wandte ich mich von ihm ab und ging zur Vordertür hoch.
Es war alles so vertraut — und doch so unheimlich fremd. Bereits auf den ersten Blick konnte ich tausend kleine Abweichungen gegenüber meiner Zeit, achtzehn Jahre später, feststellen. Da war z. B. der hängende Sturz, den ich später erneuern ließ, und dort die leere Stelle, an der ich eines Tages den gebogenen Lampenhalter anbringen würde, auf Initiative von Mrs. Watchets.
Erneut realisierte ich, welch eine bemerkenswerte Angelegenheit so eine Zeitreise war! Man hätte nach einem Flug über Tausende von Jahrhunderten die dramatischsten Umwälzungen erwarten können — und die waren auch wirklich eingetreten — aber selbst dieser kleine Hüpfer über zwei Jahrzehnte hatte mich zu einem Anachronismus werden lassen.
»Was soll ich tun? Soll ich auf dich warten?« Mir fiel wieder die stumme Gegenwart des neben mir stehenden Nebogipfel ein. Mit seiner Brille und meiner umgehängten Jacke wirkte er gleichermaßen komisch und auffallend! »Ich glaube, daß es zu gefährlich ist, wenn du draußen bleibst. Was, wenn dich ein Polizist sieht? — er könnte dich für einen Einbrecher halten. Wenn du dann noch verhaftet würdest…« Ich war mir nicht schlüssig, ob die Aussichten eines Morlocks in einem Polizeirevier des Jahres 1873 eher schlecht oder amüsant zu beurteilen waren! »Und was ist mit Hunden? Oder Katzen?« Ohne den Schutz seiner Morlock-Technik war Nebogipfel nämlich ziemlich hilflos; er hatte seine Reise durch die Zeit genauso unvorbereitet angetreten wie ich meine erste Tour. »Ich frage mich, wie der Normalbürger der siebziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts wohl auf einen Morlock reagieren würde. Er würde ihn vermutlich zu einem schmackhaften Braten verarbeiten… Nein, Nebogipfel. Alles in allem glaube ich, daß du bei mir am sichersten bist.«
»Und der junge Mann, den du besuchen willst? Wie wird er reagieren?«
Ich seufzte. »Nun, ich bin schon immer mit einem scharfen und flexiblen Verstand gesegnet gewesen. Glaube ich jedenfalls! — Vielleicht werde ich es bald herausfinden. Außerdem könnte deine Gegenwart mich — ihn — von der Richtigkeit meiner Ausführungen überzeugen.«
Und ohne mir eine weitere Verzögerung zu gestatten, zog ich an der Klingelschnur.
Im Haus hörte ich Türenschlagen und einen gereizten Ruf: »Ist ja gut, ich komme schon!« — und dann Schritte, die auf dem kurzen Flur klapperten, der das übrige Haus mit meinem Laboratorium verband.
»Das bin ich«, zischte ich Nebogipfel zu. »Er. Es muß schon spät sein — die Diener liegen bereits im Bett.«
Ein Schlüssel rasselte im Türschloß.
»Deine Brille«, zischte Nebogipfel.
Ich riß mir das auffällige Teil vom Gesicht und stopfte es in die Jackentasche — gerade in dem Moment, als die Tür aufging.
Da stand ein junger Mann, dessen Gesicht wie ein Mond im Licht der Kerze glühte, die er in der Hand hielt. Er musterte mich flüchtig, der ich unvollständig bekleidet dastand; und seine Inspektion von Nebogipfel fiel noch oberflächlicher aus. (Soviel zu meiner Beobachtungsgabe, derer ich mich immer gerühmt habe!) »Was, zum Teufel, wollen Sie? Ist Ihnen klar, daß es ein Uhr nachts ist?«
Ich öffnete den Mund und wollte etwas sagen — aber die kurze Ansage, die ich mir zurechtgelegt hatte, war mir schon wieder entfallen.
Da stand ich also meinem sechsundzwanzigjähri-gen Alter ego gegenüber!
Moses
Seit dieser Erfahrung bin ich davon überzeugt, daß wir uns alle, ohne Ausnahme, von unserem Spiegelbild täuschen lassen. Dieser Reflex ist dermaßen tief in uns verankert: Wenn auch unbewußt, orientieren wir uns an unseren besten Seiten und pressen unser Verhalten in ein Muster, das nicht einmal unser bester Freund erkennen würde. Und natürlich unterliegen wir nicht dem Zwang, uns von einer weniger vorteilhaften Seite zu zeigen: z. B. von hinten oder im Seitenprofil.
Nun, hier war eine Spiegelung, die ich nicht unter Kontrolle hatte — und die außerdem eine beunruhigende Erfahrung darstellte.
Er hatte natürlich meine Größe: wenn überhaupt eine negative Veränderung eingetreten war, dann die, daß ich in den darauffolgenden achtzehn Jahren etwas geschrumpft war. Er hatte einen merkwürdigen Kopf: ungewöhnlich breit, genauso wie viele Leute es schon bei mir festgestellt hatten, und mit dünnem braunen Haar bewachsen, das bisher weder auszufallen noch zu ergrauen begonnen hatte. Die Augen waren stahlgrau, die Nase gerade, das Kinn ausgeprägt; aber ich war eigentlich noch nie ein besonders gutaussehender Bursche gewesen: Er war von Natur aus blaß, und diese Blässe wurde noch durch die langen Stunden verstärkt, die er seit seiner Jugend in Bibliotheken, Seminarräumen, Hörsälen und Laboratorien verbracht hatte.
Ich verspürte eine vage Abscheu; ich hatte in der Tat etwas von einem Morlock an mir! Und hatte ich denn immer schon solche Segelohren gehabt?
Aber es war die Kleidung, die wirklich meine Aufmerksamkeit erregte. Die Kleidung!
Er trug das, was ich als die Kluft eines Braumeisters identifizierte: einen kurzen, hellroten Mantel über einer schwarzgelben Weste mit großen Messingknöpfen, große gelbe Stiefel und ein Blumensträußchen, das den Mantelaufschlag schmückte.
Hatte ich jemals solche Klamotten getragen? Mußte ich wohl! — obwohl ich mir das angesichts meines jetzigen nüchternen Stils nur schwer vorstellen konnte.
»Verdammt«, entfuhr es mir, »Sie sehen aus wie ein Zirkusclown!«
Er wirkte irritiert — offensichtlich schien ihm mein Gesicht ansatzweise bekannt vorzukommen —, aber er blieb mir nichts schuldig: »Vielleicht sollte ich ihnen diese Tür ins Gesicht schlagen, Sir. Sind Sie extra den Hügel heraufgekommen, nur um meine Kleidung zu beanstanden?«
Ich bemerkte, daß sein Blumenstrauß schon reichlich verwelkt war, und glaubte außerdem, eine leichte Schnapsfahne zu riechen. »Sagen Sie mir, ist heute Donnerstag?«
»Was ist denn das für eine schwachsinnige Frage? Ich sollte wohl…« »Ja?«
Er hielt die Kerze hoch und starrte mir ins Gesicht. Er war derart fasziniert von mir — von seinem eigenen, dicht unterhalb der Schwelle der Erkenntnis verborgenen Ich —, daß er den Morlock völlig ignorierte: ein Humanoider aus der entfernten Zukunft, der keine sechs Fuß von ihm entfernt stand! Ich fragte mich, ob dieser kleinen Szene vielleicht etwas Metaphorisches innewohnte: hatte ich die Zeitreise nur deshalb unternommen, um mich schließlich selbst zu finden?