»Und der Schirm fluoreszierte. Ja. Es war der Zerfall der Kerne der Radiumatome, der das verursachte«, meinte er.
»Aber ein Atom ist doch unteilbar — oder so heißt es zumindest…«
»Nur wenige Jahre nach deiner Abreise in die Zeit — soweit ich mich erinnere — wird Thomson in Cambridge das Phänomen der subatomaren Struktur demonstrieren…«
»Subatomare Struktur — Thomson! Ich habe Joseph Thomson selbst schon mehrmals getroffen — ich hatte ihn immer für einen ziemlich affektierten Schnösel gehalten — und gerade ein paar Jahre jünger als ich…«
Nicht zum erstenmal verspürte ich ein tiefes Bedauern wegen meines überhasteten Abtauchens in die Zeit! Wenn ich doch nur geblieben wäre, um an solchen intellektuellen Sternstunden teilzuhaben — ich hätte mittendrin sein können, auch ohne meine Experimente mit der Zeitreise — das wäre sicher Abenteuer genug gewesen für ein Leben.
Jetzt schien Moses seinen Vortrag beendet zu haben, und er streckte die Hand aus, um die Natriumlampe zu löschen — aber dann riß er die Hand mit einem Aufschrei zurück.
Nebogipfel hatte Moses' Finger mit seiner unbehaarten Handfläche berührt. »Es tut mir leid.«
Moses rieb sich die Hand, als ob er sie abwischen wollte. »Ihre Berührung«, sagte er. »Sie ist so — kalt.« Er starrte Nebogipfel an, als ob er ihn jetzt zum erstenmal in seiner ganzen Fremdheit sehen würde.
Nebogipfel entschuldigte sich erneut. »Ich wollte dich nicht erschrecken. Aber…«
»Ja?« sagte ich.
Der Morlock streckte einen wurmartigen Finger aus und deutete auf das Plattnerit. »Schau.«
Ich bückte mich gleichzeitig mit Moses und schielte auf die erhellte Materie.
Zuerst konnte ich nichts erkennen außer der fleckigen Reflexion der Natriumlampe, ein feiner Staubschleier auf der Oberfläche der Glasscheiben… und dann registrierte ich ein stärker werdendes Licht, ein Glühen aus den Tiefen des Plattnerits selbst: ein derart intensives grünes Leuchten, als ob das Glas ein winziges Fenster zu einer anderen Welt wäre.
Das Glühen wurde noch intensiver und ließ glitzernde Reflexe über die Reagenzgläser, Glasscheiben und anderen Utensilien des Laboratoriums wandern.
Wir suchten wieder das Eßzimmer auf. Das Kaminfeuer war nun schon seit Stunden erloschen, und es wurde kühl im Raum, aber Moses schien mein Unbehagen nicht zur Kenntnis zu nehmen. Er goß mir noch einen Brandy ein und bot mir eine Zigarre an, die ich auch annahm; Nebogipfel bat um etwas Wasser. Mit einem Seufzer zündete ich die Zigarre an, während Nebogipfel mich mit einem Ausdruck blanken Erstaunens musterte; er schien alle angelernten menschlichen Umgangsformen vergessen zu haben!
»Nun, Sir«, sagte ich, »wann gedenken Sie diese bemerkenswerten Ergebnisse zu veröffentlichen?«
Moses kratzte sich am Kopf und lockerte seine schrille Krawatte. »Ich bin mir nicht sicher«, antwortete er frei heraus. »Ich habe doch kaum mehr als einen Beobachtungskatalog von Anomalien einer Substanz vorzuweisen, deren Herkunft noch ungewiß ist. Aber vielleicht gibt es irgendwo noch klügere Kollegen als mich, die damit etwas anfangen können — die z. B. imstande sind, herauszufinden, wie man noch mehr Plattnerit herstellt…«
»Nein«, wandte Nebogipfel geheimnisvoll ein. »Die dazu benötigten Mittel werden erst in einigen Jahrzehnten zur Verfügung stehen.« Moses schaute den Morlock neugierig an, ging aber nicht weiter auf diesen Punkt ein.
»Sie haben also nicht die Absicht einer Veröffentlichung«, warf ich einen Köder aus.
Er winkte mir konspirativ zu — eine weitere irritierende Angewohnheit! — und sagte: »Alles zu seiner Zeit. Wissen Sie, in mancherlei Hinsicht bin ich gar kein echter Wissenschaftler — Sie wissen, was ich meine, der vorsichtige Korinthenkacker, der dann von der Presse als hervorragender Wissenschaftler oder bekannter Wissenschaftlern gefeiert wird. Man hört sich an, wie ein solcher Bursche sich vielleicht über irgendeinen obskuren Aspekt toxischer Alkaloide verbreitet, und dann kann man vernehmen, wie aus der Dunkelheit die merkwürdigen Fragmente herandriften, die der Kollege deutlich vorzutragen glaubt; und — falls Sie noch nicht von den Dutzenden sphymographischer Versatzstücke den Rest bekommen haben, von denen ein solches Geschwafel immer begleitet wird — können Sie vielleicht einen Blick auf eine Brille mit Goldrand und Stiefel werfen, die wegen der Hühneraugen offenstehen…«
»Aber Sie…«, wollte ich loslegen.
»Oh, ich habe nicht vor, die geduldigen Arbeitstiere dieser Welt zu verunglimpfen! — Ich wage zu behaupten, daß ich mich in den kommenden Jahren auch auf die Ochsentour begeben muß — aber ich verspüre auch eine gewisse Ungeduld. Ich will nämlich immer herausfinden, wie sich die Dinge entwickeln, wissen Sie.« Er nahm einen Schluck von seinem Drink. »Ich habe bereits einige Veröffentlichungen vorzuweisen — einschließlich einer in den Philosophical Transactions — und eine Anzahl weiterer Studien, die auch von ziemlicher Bedeutung sind. Aber die Arbeit an dem Plattnerit…«
»Ja?«
»Ich habe ein merkwürdiges Gefühl deswegen. Ich möchte sehen, wie weit ich allein damit komme…«
Ich beugte mich vor. Ich sah, wie das Kerzenlicht von den Blasen in seinem Glas reflektiert wurde, und seine Mimik war lebhaft und engagiert. Es war die ruhigste Zeit der Nacht, und ich schien mit übernatürlicher Klarheit jedes Detail wahrzunehmen, das Ticken jeder Uhr im Haus zu hören. »Sagen Sie mir, was Sie meinen.«
Er strich seine lächerliche Clownskutte glatt. »Ich habe Ihnen von meinen Spekulationen berichtet, wonach ein durch Plattnerit geschickter Lichtstrahl in der Zeit versetzt wird. Damit meine ich, daß sich der Strahl ohne Zeitverlust zwischen zwei Punkten im Raum bewegt. Aber ich habe den Eindruck«, meinte er langsam, »daß, falls das Licht sich auf diese Art durch die Zeit bewegen kann, dies auch für materielle Objekte möglich wäre. Ich bin der Ansicht, wenn man das Plattnerit mit einer geeigneten kristallinen Substanz vermischen würde — vielleicht mit Quarz oder einem anderen Felskristall — dann…« »Ja?«
Er schien wieder Bodenhaftung zu bekommen. Er stellte das Brandyglas auf einen Beistelltisch an seinem Stuhl und beugte sich vor; seine hellgrauen und ernsten Augen schienen im Kerzenlicht zu schimmern. »Ich weiß nicht, ob ich noch mehr sagen soll! Schauen Sie: Ich bin sehr offen zu Ihnen gewesen. Und nun ist es an der Zeit, daß Sie genauso offen zu mir sind. Wollen Sie das tun?«
Ich schaute ihm ins Gesicht, um eine Antwort zu finden — in Augen, die, obwohl von glatterer Haut umgeben, unbestreitbar meine eigenen waren, die Augen, die mich jeden Tag im Rasierspiegel anstarrten!
»Wer sind Sie?« zischte er, offenbar nicht imstande, den Blick zu wenden.
»Sie wissen, wer ich bin. Stimmt's?«
Der Moment zog sich in die Länge, still und schweigsam. Der Morlock war nur schemenhaft präsent, kaum von uns zur Kenntnis genommen.
Schließlich sagte Moses: »Ja. Ja, ich glaube, ich weiß es.«
Ich wollte ihm Zeit geben, sich auf diese Situation einzustellen. Die Realität der Zeitreise — für jedes Objekt, das substantieller war als ein Lichtstrahl — befand sich für Moses noch immer halb im Reich der Phantasie! So abrupt mit ihrem physikalischen Beweis konfrontiert zu werden — und was noch schlimmer war, mit seinem eigenen Ich aus der Zukunft —, mußte ein immenser Schock gewesen sein.
»Vielleicht solltest du meine Gegenwart hier als unvermeidliche Konsequenz deiner Forschungen betrachten«, schlug ich vor. »Muß eine Zusammenkunft wie diese denn nicht zwangsläufig eintreten, wenn du deine Versuchsreihe wie geplant ablaufen läßt?«