»Vielleicht…«
Aber jetzt bemerkte ich, daß seine Reaktion — er war weit davon entfernt, vor Ehrfurcht zu erstarren, wie ich vielleicht erwartet hätte — weitaus weniger respektvoll ausfiel. Er schien mich erneut zu inspizieren, und sein Blick glitt taxierend über Gesicht, Haare und Kleidung.
Ich versuchte, mich selbst mit den Augen dieses energischen Sechsundzwanzigjährigen zu sehen. Absurderweise fühlte ich mich unsicher; ich schob mein Haar zurück, das ich seit dem Jahr 657208 n. Chr. nicht mehr gekämmt hatte — und zog den Bauch ein, der bei weitem nicht mehr so straff war wie seinerzeit.
Aber diese Mißbilligung hielt sich dennoch in seinem Gesicht.
»Schau nur gut hin«, empfahl ich ihm herzlich. »So wirst du nämlich auch mal aussehen!«
Er rieb sich das Kinn. »Machst nicht gerade viel Sport, was?« Er riß an seinem Daumen. »Und er — Nebogipfel — ist er…«
»Ja«, bestätigte ich. »Er ist ein Mensch aus der Zukunft — aus dem Jahr 657208 n. Chr. und auf einer wesentlich höheren Entwicklungsstufe als wir — den ich auf meiner Zeitmaschine mitgebracht habe: auf der Maschine, deren erste, ansatzweise Pläne du bereits skizzierst.«
»Ich bin versucht, dich danach zu fragen, wie sich das alles für mich entwickeln wird — werde ich Erfolg haben? Werde ich heiraten? — und so weiter. Aber ich glaube, daß ich ohne dieses Wissen besser dran bin.« Er beäugte Nebogipfel. »Die Zukunft der Menschheit ist dann jedoch eine andere Sache.«
»Du glaubst mir doch — oder?«
Er nahm sein Whiskyglas, sah, daß es leer war, und stellte es wieder ab. »Ich weiß nicht. Ich meine, es gehört wohl nicht viel dazu, in ein Haus zu spazieren und zu behaupten, daß man das eigene Ich aus der Zukunft sei…«
»Aber du hast dich doch schon selbst mit der Möglichkeit der Zeitreise beschäftigt. Und außerdem — schau mir ins Gesicht!«
»Ich konzediere, daß hier eine gewisse oberflächliche Ähnlichkeit vorliegt; aber es ist genauso gut möglich, daß das alles nur ein Witz ist — möglicherweise in bösartiger Absicht —, der abgezogen wurde, um mich als Lachnummer zu karikieren.« Er sah mich direkt an. »Wenn Sie wirklich der sind, für den Sie sich ausgeben — wenn Sie also Ich sind —, dann sind Sie doch sicher nicht ohne Grund hierhergereist.«
»Ja.« Ich versuchte, meinen Ärger zu unterdrücken und daran zu denken, daß die Kommunikation mit diesem schwierigen und ziemlich arroganten jungen Mann von größter Wichtigkeit war. »Ja. Ich habe eine Mission.«
Er zupfte am Kinn. »Dramatische Worte. Aber wie könnte ich von so großer Bedeutung sein? Ich bin Wissenschaftler — und vielleicht nicht einmal das; ich bin bloß ein Amateur, ein Dilettant. Ich bin weder ein Politiker noch ein Prophet.«
»Nein. Aber du bist — oder wirst — der Erfinder der gewaltigsten überhaupt vorstellbaren Waffe sein: damit meine ich die Zeitmaschine.«
»Was ist also der Punkt Ihres Erscheinens?«
»Du mußt das Plattnerit vernichten und andere Forschungsschwerpunkte setzen. Du darfst die Zeitmaschine nicht entwickeln — das ist der Punkt!«
Er legte die Hände aneinander und musterte mich. »Gut. Offensichtlich haben Sie eine Geschichte auf Lager. Wird sie lange dauern? Möchten Sie noch etwas Brandy — oder vielleicht eine Tasse Tee?«
»Nein. Nein danke. Ich werde es so kurz wie möglich machen.«
Und so begann ich meinen Bericht mit einer kurzen Zusammenfassung der Entdeckungen, die der Konstruktion der Zeitmaschine vorausgegangen waren — und wie ich die erste Reise angetreten hatte und in die Historie der Eloi und Morlocks geraten war — und was ich bei meiner Rückkehr entdeckte und wie ich zum zweitenmal versucht hatte, in die Zeit zu reisen.
Ich muß wohl ziemlich langsam gesprochen haben — ich konnte mich nicht erinnern, vor wievielen Stunden ich zum letztenmal geschlafen hatte — doch im Verlauf meines Vortrags wurde ich frischer und fixierte Moses' ernstes, rundes Gesicht im hellen Kreis des Kerzenlichts. Irgendwann registrierte ich wieder die Anwesenheit von Nebogipfel, denn er verfolgte meinen Bericht schweigend, und zuweilen — z. B bei meiner Beschreibung der ersten Morlocks — wandte sich Moses an Nebogipfel, als ob er sich von ihm ein Detail bestätigen lassen wollte.
Doch nach einer Weile unterließ er selbst das und hing mir nur noch an den Lippen.
Überzeugung und Skepsis
Die Morgendämmerung hatte schon lange eingesetzt, als ich meine Schilderungen beendete.
Moses saß im Sessel, wobei er die Augen noch immer auf mich geheftet und das Kinn in eine Hand gestützt hatte. »Gut«, sagte er schließlich, als ob er einen Bann brechen wollte. Er stand auf, streckte sich und ging durch das Zimmer zu den Fenstern; er schob sie zurück und gab den Blick auf einen wolkigen, aber sich aufhellenden Himmel frei.
»Das ist ein bemerkenswerter Bericht.«
»Es ist mehr als das«, sagte ich mit rauher Stimme. »Siehst du das denn nicht? Bei meiner zweiten Reise in die Zukunft bin ich in eine andere Historie geraten. Die Zeitmaschine ist der Totengräber der Geschichte — ein Zerstörer von Welten und Spezies. Erkennst du nicht, weshalb sie nicht gebaut werden darf?«
Moses wandte sich Nebogipfel zu. »Wenn Sie ein Mensch aus der Zukunft sind — was haben Sie dann zu der ganzen Sache zu sagen?«
Nebogipfels Stuhl stand noch im Schatten, aber er verbarg sich vor dem aufkommenden Tageslicht. »Ich bin kein Mensch«, korrigierte er mit seiner kalten, ruhigen Stimme. »Aber ich stamme aus einer Zukunft — einer von vielleicht unendlich vielen möglichen Varianten. Und es scheint richtig zu sein — es ist logisch sicher möglich —, daß eine Zeitmaschine den Lauf der Geschichte beeinflussen kann und somit neue Ereignisvarianten generiert. In der Tat scheint das grundlegende Funktionsprinzip der Maschine darauf zu basieren, daß sie aufgrund der Eigenschaften des Plattnerits in eine andere, parallele Historie versetzt wird.«
Moses ging zum Fenster, und die aufgehende Sonne konturierte sein Profil. »Aber meine Forschungen aufgeben, nur wegen Ihres unbewiesenen Bla-blas…«
»Blabla? Ich glaube, daß ich wohl etwas mehr Respekt verdient habe«, reklamierte ich mit wachsendem Ärger. »Schließlich bin ich du! Oh, bist du vielleicht borniert. Ich habe einen Menschen aus der Zukunft mitgebracht — womit muß ich dich sonst noch überzeugen?«
Er schüttelte den Kopf. »Schauen Sie«, meinte er, »ich bin müde — ich bin die ganze Nacht aufgewesen, und der Brandy hat auch nicht viel geholfen. Und ihr beide seht auch so aus, als ob euch ein bißchen Ruhe ganz gut tun würde. Ich habe noch Zimmer frei; ich werde euch hinbringen…«
»Ich kenne den Weg«, meinte ich frostig.
Er nahm es mit Humor. »Ich sorge dafür, daß Mrs. Penforth euch Frühstück bringt… oder«, versetzte er nach einem erneuten Blick auf Nebogipfel, »vielleicht lasse ich es besser hier servieren.«
»Kommt«, sagte er. »Das Schicksal der Menschheit kann noch ein paar Stunden warten.«
Ich schlief tief — erstaunlicherweise — und wurde von Moses geweckt, der mir eine Waschschüssel mit heißem Wasser brachte.
Ich hatte meine Kleidung auf einem Stuhl zusammengelegt; nach meinen Zeitabenteuern waren sie ziemlich verschlissen. »Du hast wohl nicht etwas zum Anziehen für mich, oder?«
»Du kannst einen Bademantel haben, wenn du willst. Es tut mir leid, alter Junge — aber ich glaube nicht, daß dir irgend etwas von meinen Sachen passen würde!«
Seine beiläufige Arroganz ärgerte mich. »Eines Tages wirst du auch etwas älter geworden sein. Und ich hoffe, daß du dich dann erinnerst — ach — vergiß es!« meinte ich.