Er seufzte. »Sie haben Lufttorpedos, weißt du. Die Deutschen, meine ich. Fliegende Maschinen, die einen einhundertneunzig Meilen entfernten Ort ansteuern, eine Bombe abwerfen und zurückkehren können! — alles mechanisch, ohne menschliche Eingriffe. Es ist eine Welt der Wunder, denn der Krieg ist eine enorme Motivation für den Erfindungsgeist. Es wird dir hier gefallen!«
»Die Deutschen…«, sagte Moses. »Seit Bismarck hatten wir nichts als Ärger mit den Deutschen. Ist dieser alte Schuft denn immer noch am Leben?«
»Nein, aber er hat würdige Nachfolger gefunden«, meinte Filby grimmig.
»Bismarck«, fuhr Moses fort: »Sicher der ordinärste und primitivste Mann, der jemals groß geworden ist, mit einer ausgeprägten Bauernschläue. Ihn interessierte nichts außer Deutschland — ein größeres, mächtigeres Deutschland; darüber hinaus hatte er keine Ideen oder Vorstellungen. Und dennoch war er der einflußreichste Mann der Welt…«
»Und ganz Europa«, sagte Nebogipfel in monotonem und emotionslosem Tonfall, »hat ihm seine Kinder geopfert.«
Darauf wußte ich nichts zu sagen. Aus meiner Perspektive, die jetzt von Moses abgekoppelt war, schien selbst ein solcher Rohling wie Bismarck kaum den Verlust eines einzigen Menschenlebens zu rechtfertigen.
In atemlosen Bruchstücken erzählte mir Filby von weiteren erstaunlichen Errungenschaften der Kriegsführung dieses düsteren Zeitalters: von Jagdunterseebooten zur Durchführung des Gaskrieges mit praktisch unbegrenzter Reichweite und einem Bestand von einem halben Dutzend Raketen, die einen formidablen Vorrat an Gasgranaten trugen; von einer Flut von eisernen Kampffahrzeugen, von denen ich mir vorstellte, wie sie durch das zerschlagene Europa pflügten; von anderen ›Juggernauts‹, die unter Wasser fahren, schwimmen oder sich unterirdisch fortbewegen konnten; und all dem stand ein gleichermaßen gigantisches Arsenal an Fallen, Giftgasgürteln, Minen und Geschützen aller Kaliber gegenüber.
Ich wich Nebogipfels Blick aus; ich konnte sein Urteil nicht ertragen! Denn dies war kein Fleck in einer Himmelssphäre, die von weit entfernten, abhumanen Nachkommen der Menschheit bevölkert wurde: dies war meine Welt, meine Rasse, die in einen Kriegstaumel verfallen war! Was mich betraf, so verfügte ich noch immer über einen Teil der übergeordneten Perspektive, die ich mir im Innern dieser großen Konstruktion angeeignet hatte. Ich konnte den Anblick kaum ertragen, wie sich meine eigene Nation einem solchen Wahnsinn hingab, und es schmerzte mich, Moses' Beiträge zu hören, die naturgemäß die Vorstellungen seiner Zeit widerspiegelten. Ihm konnte ich kaum etwas vorwerfen! — aber die Erkenntnis deprimierte mich, daß meine eigene Vorstellung auch einmal so begrenzt, so formbar gewesen war.
Eine Reise mit der Eisenbahn
Wir erreichten einen schlichten Bahnhof. Aber das war nicht der Bahnhof, den ich 1891 aufgesucht hatte, um von Richmond über Barnes nach Waterloo zu fahren; diese neue Einrichtung befand sich nicht mehr im Stadtzentrum, sondern gleich an der Kew Road. Und es war ein merkwürdiger Bahnhof: es gab nichts derartiges wie Fahrkartenschalter oder Tafeln mit Fahrplänen, und der Bahnsteig war ein nackter Betonstreifen. Die neue Linie war ziemlich nachlässig verlegt. Ein Zug wartete auf uns: die Lokomotive war ein unansehnliches, dunkles Gerät, das traurige Dampfwolken über den rußverschmierten Kessel blies, und sie zog nur einen Waggon. Die Lokomotive wies weder eine Beleuchtung noch die Aufschrift der staatlichen Eisenbahngesellschaft auf.
Soldat Oldfield schob die Waggontür auf; sie war schwer, mit einer umlaufenden Gummidichtung an der Kante. Oldfields Augen hinter der Maske überflogen das Innere. Richmond, an einem sonnigen Nachmittag im Jahre 1938, war kein sicherer Ort!
Der Waggon war spartanisch ausgestattet: es gab einige Reihen harter Holzbänke — und das war schon alles —, ansonsten weder Polsterung noch irgendwelchen Schmuck. Der Anstrich war ein uniformes Dunkelbraun ohne jeden ästhetischen Anspruch. Die Fenster waren versiegelt, und sie hatten Rollos, mit denen sie verdunkelt werden konnten.
Wir suchten uns Plätze, auf denen wir uns dann ziemlich steif gegenübersaßen. An diesem sonnigen Tag war die Hitze im Waggon unerträglich.
Als Oldfield die Tür geschlossen hatte, setzte der Zug sich schleppend in Bewegung.
»Offensichtlich sind wir die einzigen Passagiere«, murmelte Moses.
»Nun, es ist ja auch ein seltsamer Zug«, stellte ich fest. »Eher spärlicher Komfort, Filby — eh?«
»Dies ist auch keine Zeit für Luxus, mein Freund.«
Wir fuhren einige Meilen durch eine desolate Landschaft, wie wir sie schon um Richmond gesehen hatten. Ich hatte den Eindruck, daß das Land überwiegend in Anbauflächen verwandelt worden und fast menschenleer war, obwohl ich zuweilen ein paar Leute sah, die ein Feld bestellten: es hätte ein Stilleben aus dem fünfzehnten Jahrhundert sein können und keine Szene aus dem zwanzigsten — abgesehen von den zerstörten und ausgebombten Häusern, welche die Landschaft verschandelten, wobei an manchen Stellen die imponierenden Silhouetten von Luftschutzbunkern auftauchten — große, halb in den Boden eingelassene Betonpanzer. Bewaffnete Soldaten gingen in der Umgebung dieser Bunker Streife und beäugten die Welt käferartig durch ihre Gasmasken, als ob sie eventuelle Flüchtlinge von einer Annäherung abhalten wollten.
In der Nähe von Mortlake sah ich am Straßenrand vier Leute an Telegraphenmasten baumeln. Ihre Körper waren schlaff und verkohlt, und offensichtlich waren sie schon von Vögeln angenagt. Ich erzählte Filby von diesem schrecklichen Anblick — er und die Soldaten hatten von der Gegenwart der Leichen nicht einmal Notiz genommen — und er wandte seinen wäßrigen Blick in die angegebene Richtung, wobei er etwas murmelte wie ›sicher haben sie Rüben oder so was gestohlen‹. Ich wurde belehrt, daß ein solcher Anblick alltäglich war, in dieser Version des Jahres 1938.
Plötzlich fuhr der Zug über eine Gefällstrecke in einen Tunnel ein. Zwei schwächliche Glühlampen waren die Waggonbeleuchtung, und wir saßen in ihrem gelben Glühen und starrten uns an.
»Ist das eine Untergrundbahn?« fragte ich Filby. »Ich könnte mir denken, daß wir uns auf einer Erweiterung der Metropolitan Line befinden.«
Filby wirkte verwirrt. »Oh, ich nehme doch an, daß die Linie eine Nummer oder eine andere…«
Moses begann an seiner Maske herumzufummeln. »Wenigstens könnten wir jetzt mal diese schrecklichen Dinger ablegen.«
Bond legte eine Hand auf seinen Arm. »Nein«, widersprach sie. »Es ist nicht sicher.«
Filby nickte zustimmend. »Das Gas kommt überall hin.« Ich glaubte, daß er schauderte, aber in seiner schmuddeligen, zu weiten Montur konnte man das nicht genau sagen. »Wenn man es einmal selbst erlebt hat…«
Dann skizzierte er in kurzen, lebendigen Worten ein Bild, das ich nie vergessen werde: von einem Gas, dessen Wirkung er in der Anfangsphase des Krieges in Knightsbridge erlebt hatte, als die Bomben noch von Hand aus Freiballons abgeworfen wurden und die Bevölkerung noch nicht an den Luftkrieg gewöhnt war.
Der Angriff begann mit einem Alptraum aus Alarmrufen, Sirenen, den wirkungslosen Pfiffen von Spähern auf Fahrrädern — und dann brach es über sie herein — und jeder Hauch einer Organisation war wie weggeblasen. Unter Preisgabe jeglichen Stolzes und aller Würde gab es nur noch Schwärme planlos hin- und herwuselnder Menschen (laut Filby). Sie kämpften und schlugen um sich wie Tiere, kletterten über Tote und Sterbende gleichermaßen, bis sie selbst fielen und ihrerseits niedergetrampelt wurden…
Und nun deutete Filby an, daß solch gespenstische Szenen in dieser Welt des Ewigen Krieges zum Alltagsbild gehörten!
»Es wundert mich überhaupt, daß die Moral nicht schon längst zusammengebrochen ist, Filby.«