»Die Leute geben offensichtlich nicht so schnell auf. Sie halten was aus. Natürlich hat es auch schon kritische Momente gegeben«, gab er zu. »Ich erinnere mich zum Beispiel an den August 1918… Damals hatte es den Anschein, als ob die westlichen Alliierten den verdammten Deutschen schließlich aufs Dach steigen und den Krieg beenden würden. Aber dann kam sie, die Kaiserschlacht, Ludendorffs großer Sieg, in dem er einen Keil zwischen die britischen und französischen Linien trieb… Nach vier Jahren Stellungskrieg war das ein großer Durchbruch für sie. Da half uns auch nicht mehr die Bombardierung von Paris, bei der ein Großteil des französischen Generalstabs umkam…«
Captain Bond nickte; ihr Haarschnitt war extrem kurz, wie der eines Mannes. »Der schnelle Sieg im Westen ermöglichte es den Deutschen, alle Kräfte gegen die Russen im Osten zu werfen. Dann, 1925…«
»1925«, führte Filby weiter aus, »hatten die Deutschen ihren Traum von Mitteleuropa wahrgemacht.«
Er und Bond setzten mich ins Bild. Mitteleuropa: die europäische Achse, ein gemeinsamer Markt, der sich von der Atlantikküste bis zum Ural erstreckte. 1925 reichte der Einflußbereich des Kaisers vom Atlantik bis zum Baltikum, über Rußland-Polen bis zur Krim. Frankreich war zu einem Rumpfstaat reduziert worden und hatte dadurch die meisten seiner Ressourcen verloren. Luxemburg war mit Gewalt eingegliedert worden. Belgien und Holland wurden dazu gezwungen, den Deutschen ihre Häfen zur Verfügung zu stellen. Die Montanindustrie Frankreichs, Belgiens und Rumäniens wurde in den Dienst der weiteren Expansion des Reiches nach Osten gestellt, die Slawen wurden zurückgedrängt, und Millionen Nichtrussen wurden von Moskaus Vorherrschaft ›befreit‹…
Und so fort, in allen unwesentlichen Details.
»Dann, im Jahre 1926«, sagte Bond, »eröffneten die Alliierten — Großbritannien und sein Empire sowie Amerika — erneut eine Front im Westen. Es ist die Invasion von Europa: die größte see- und luftgestützte Verschiebung von Truppen und Material, die jemals stattgefunden hat.
Anfangs lief alles nach Plan. Die Bevölkerung Frankreichs und Belgiens erhob sich, und die Deutschen wurden zurückgeworfen…«
»Aber nicht sehr weit«, präzisierte Filby. »Bald war es wieder wie im Jahr 1915, wo sich zwei riesige Armeen im Schlamm Frankreichs und Belgiens gegenüberlagen.«
Damit hatte die Belagerung begonnen. Aber jetzt waren die verfügbaren Ressourcen der Kriegsgegner um so vieles größer: das Herzblut des Britischen Empire und des Amerikanischen Kontinents auf der einen Seite, das von Mitteleuropa auf der anderen, strömte in dieses Faß ohne Boden.
Und dann entbrannte der Krieg gegen die Zivilbevölkerung in voller Schärfe: die Lufttorpedos, die Gasangriffe…
»›Die Kriege der Völker werden die Kriege der Könige an Schrecken übertreffen‹«, zitierte Moses düster.
»Aber die Menschen, Filby — was wird aus den Menschen?«
Seine Stimme, durch die Maske gedämpft, klang auf einmal vertraut, wenn auch entfernt. »Es hat Demonstrationen gegeben — meines Wissens vor allem in den späten Zwanzigern. Aber dann haben sie den Erlaß 1305 verabschiedet, der Streiks, Aussperrungen und alle vergleichbaren Aktionen für illegal erklärte. Und das war es dann! Seitdem… — nun, ich vermute, daß wir uns wohl so durchgeschlagen haben.«
Ich registrierte, daß die Tunnelwände vom Fenster zurückwichen, als ob wir das Ende des Tunnels erreicht hätten. Wir schienen in eine große unterirdische Kammer einzufahren.
Bond und Oldfield öffneten mit allen Anzeichen der Erleichterung ihre Masken; Filby löste ebenfalls die Riemen, und als sein malträtierter alter Kopf aus seinem feuchten Gefängnis befreit wurde, konnte ich weiße Vertiefungen am Kinn erkennen, wo die Dichtung der Maske in die Haut eingeschnitten hatte. »So ist es besser«, meinte er.
»Sind wir jetzt sicher?«
»Sollten wir jedenfalls sein«, erwiderte er. »So sicher wie nur irgendwo!«
Ich knöpfte meine Maske auf und zog sie mir vom Kopf; Moses entledigte sich schnell der seinen und half dann dem Morlock. Als Nebogipfels kleines Gesicht zum Vorschein kam, starrten Oldfield, Bond und Filby ganz unverhohlen hin — ich konnte ihnen keinen Vorwurf deswegen machen! —, bis Moses ihm dabei half, wieder die Kappe und die Brille aufzusetzen.
»Wo sind wir?« fragte ich Filby.
»Erkennst du es denn nicht?« Filby fuchtelte mit einer Hand in Richtung der Dunkelheit hinter dem Fenster.
»Ich…«
»Es ist Hammersmith, mein Freund. Wir haben gerade den Fluß überquert…«
»Es ist Hammersmith Gate«, erklärte mir Hilary. »Wir haben die Kuppel von London erreicht.«
London im Krieg
Die Kuppel von London! — Nichts in meiner eigenen Zeit hatte mich auf diese enorme Ingenieursleistung vorbereitet. Man stelle sich vor: eine große Schale aus Beton und Stahl mit einem Durchmesser von zwei Meilen, die sich von Hammersmith nach Stepney und von Islington nach Clapham über die Stadt wölbte… Die Straßen waren überall von Säulen, Verstrebungen und Widerlagern durchbrochen, die in den Londoner Boden gerammt worden waren und die Bevölkerung wie die Beine eines Rudels von Riesen dominierte und einengte.
Der Zug fuhr weiter, über Hammersmith und Fulham hinaus weiter in die Kuppel hinein. Als sich meine Augen an das Zwielicht anpaßten, sah ich, wie die Straßenbeleuchtung das Bild eines Londons nachzeichnete, das ich noch identifizieren konnte: »Hier ist die Kensington High Street, hinter diesem Zaun. Und ist das Holland Park?« — und so weiter. Aber trotz all der bekannten Landmarken und Straßennamen war dies doch ein neues London: ein London der permanenten Nacht, eine Stadt, die sich nie am strahlenden Junihimmel erfreuen konnte — aber ein London, das diesen Preis für das Überleben akzeptiert hatte, wie Filby mir sagte. Denn selbst die schwersten Bomben und Torpedos würden von diesem massiven Dach abprallen oder harmlos in der Luft explodieren und somit Cobbetts darunterliegenden ›Great Wen‹ unbeschädigt lassen.
Überall, so sagte Filby, waren die Städte der Menschen — die einst im Lichterglanz erstrahlten und unsere sich drehende Welt nachts in ein glühendes Juwel verwandelt hatten — von solch großen, dunklen Schalen bedeckt; jetzt gab es kaum noch Verkehr zwischen den großen Kuppelstädten, und die Menschen zogen es vor, sich in ihrer selbstgeschaffenen Dunkelheit zu verstecken.
Unsere neue Bahnlinie schien sich mitten durch die alte Straßenführung zu ziehen. Die Straßen, die wir querten, waren ziemlich belebt, aber nur mit Fußgängern oder Radfahrern; ich sah keine Wagen, weder von Pferden gezogen noch mit Motorantrieb, wie ich es eigentlich erwartet hatte. Es gab sogar Rikschas! — leichte, überdachte Karren, die von schwitzenden, hageren Cockneys im Slalom um die als Hindernis im Weg stehenden Stützpfeiler der Kuppel gezogen wurden.
Als ich die Menge durch das Fenster des langsamer werdenden Zuges beobachtete, vermittelte mir dieser Anblick trotz der allgemeinen Hektik und Geschäftigkeit den Eindruck von Verzweiflung, Verzagtheit und Desillusionierung… Ich sah gesenkte Köpfe, hängende Schultern, Falten in müden Gesichtern; es hatte für mich den Anschein, als ob das Leben der Menschen durch eine gewisse Verbissenheit charakterisiert würde; aber es schien — und das wunderte mich nicht — kaum Lebensfreude vorzuherrschen.
Es fiel auf, daß nirgendwo Kinder zu sehen waren. Bond erklärte mir, daß die Schulen jetzt alle unter die Erde verlagert worden waren, um sie besser vor Bombenangriffen zu schützen, während die Eltern in den Munitionsfabriken bzw. den großen Flugzeugwerken arbeiteten, die an der Peripherie von London in Balham, Hackney und Wembley errichtet worden waren. Nun, vielleicht dienten diese Vorkehrungen wirklich der Sicherheit — aber welch ein öder Ort war die City ohne das Lachen spielender Kinder! — was sogar ich, ein überzeugter Junggeselle, bereitwillig eingestand. Und auf welche Art wurden diese armen unterirdischen Würmchen wohl auf das Leben vorbereitet?