Zuerst einmal beschloß ich zu eruieren, in welchen Zeitabschnitt es mich überhaupt verschlagen hatte. Ich beugte mich über die Uhren, aber wegen des gesprungenen Glases und des Schattens der Kerze konnte ich sie unmöglich ablesen. So nahm ich die Kerze aus ihrer Vertiefung im Sand und hielt sie gegen die Uhren. Ich sah, daß sie den Tag 239 354 634 anzeigten: deshalb — nahm ich jedenfalls an — befand ich mich im Jahr 657208 n. Chr. Meine kühnen Überlegungen hinsichtlich der Veränderlichkeit von Vergangenheit und Zukunft mußten also stimmen; denn diese dunkle Hügelkette befand sich in einer Zeit, die hundertfünfzigtausend Jahre vor Weenas Geburt lag, und ich konnte mir nicht vorstellen, wie sich jener sonnenüberflutete Garten aus dieser lichtlosen Finsternis hätte entwickeln sollen!
Ich weiß noch, wie mich mein Vater in meiner frühen Kindheit mit einem primitiven Wunderspielzeug unterhalten hatte, das ›Stereoskop‹ genannt wurde. Lieblos kolorierte Bilder wurden mittels einer fernglasähnlichen Optik auf eine Leinwand projiziert. Das Bild wurde zunächst von der rechten Linse des Apparates abgebildet; dann wurde das Licht auf die linke Seite verschoben, so daß das rechts dargestellte Bild langsam verblaßte, während das andere immer heller wurde. Als Kind hatte mich die Art tief beeindruckt, auf die sich eine klare Realität in ein Phantom verwandelte, schließlich verschwand und dann durch einen Nachfolger ersetzt wurde, dessen Gestalt zuvor nur in Umrissen zu erkennen gewesen war. Es waren magische Momente, als die beiden Bilder sich exakt in der Balance befanden, und es war schwer zu sagen, welche Details sich nun entwickelten oder abnehmende Realitäten waren, oder ob überhaupt irgendein Teil des Bilderensembles ›real‹ war.
Als ich also in der abgedunkelten Landschaft stand, fühlte ich, wie die dezidierte Beschreibung der Welt, die ich für mich konstruiert hatte, an Profil verlor und durch eine höchst vage Version ersetzt wurde, die zudem eher für Verwirrung als für Klarheit sorgte!
Die Divergenz der beiden Historien, die ich beobachtet hatte — zuerst das Gebäude in der Gartenwelt der Eloi; dann das Erlöschen der Sonne und die Entstehung dieser planetarischen Wüste — ging über meinen Verstand. Wie konnte sich etwas ereignen und dann doch nicht ereignen?
Ich gedachte der Worte des Thomas von Aquin: daß »Gott die Vergangenheit nicht ungeschehen machen kann. Es ist noch weniger möglich, als die Toten wieder lebendig zu machen…« Das hatte ich auch mal geglaubt! Ich neige eigentlich nicht zu philosophischen Spekulationen, aber ich hatte mir die Zukunft immer als eine Verlängerung der Vergangenheit vorgestellt: fest und unveränderlich, sogar für einen Gott — und ganz gewiß für den Menschen. In meiner Vorstellung war die Zukunft wie ein großer Raum, unverrückbar und statisch. Und mit meiner Zeitmaschine konnte ich quasi auf Expedition zu den Möbeln der Zukunft gehen.
Aber nun mußte ich mich offensichtlich damit vertraut machen, daß die Zukunft eben keine statische Sache war, sondern eine variable! Wenn dem wirklich so war, überlegte ich, welche Bedeutung würde dann überhaupt dem Leben der Menschen zukommen? Es war schon schlimm genug, den Gedanken zu ertragen, daß alle Leistungen, die man erbracht hatte, durch die Erosion der Zeit der Bedeutungslosigkeit anheimfallen würden — und wer hätte das besser wissen können als ich? —, aber wenigstens würde einem immer noch der Trost bleiben, daß die erschaffenen Monumente und die Dinge, die man geliebt hatte, einmal gewesen waren. Doch wenn die Geschichte zu dieser totalen Auslöschung und Modifikation in der Lage war, welchen möglichen Wert könnte man dann den menschlichen Aktivitäten überhaupt noch zuschreiben?
Beim Grübeln über diese beunruhigenden Perspektiven hatte ich den Eindruck, daß sich die Stringenz meiner Gedanken und die Präzision meiner Wahrnehmung der Welt auflösen würden. Ich starrte in das Kerzenlicht und suchte nach den Umrissen eines neuen Verständnisses.
Ich war noch nicht am Ende, überlegte ich mir dann; meine Furcht ließ nach, und mein Geist blieb standhaft und stark. Ich würde diese bizarre Welt erforschen, so viele Bilder wie möglich mit meiner Kodak machen und dann ins Jahr 1891 zurückkehren. Dort konnten sich dann versiertere Philosophen als ich mit diesem Paradoxon herumschlagen, zwei Zukünfte, die sich gegenseitig ausschlossen.
Ich ergriff den Rahmen der Zeitmaschine, schraubte die kleinen Hebel los, mit deren Hilfe ich die Reise durch die Zeit beginnen würde und verstaute sie sicher in der Tasche. Dann suchte ich herum, bis ich die solide Masse meines Schürhakens fand; er steckte noch immer dort, wo ich ihn in der Maschine untergebracht hatte. Ich packte seinen dicken Griff, zog ihn hervor und wog ihn in der Hand, wobei ich ihn wegen seines Gewichts als Waffe brauchbar fand. Meine Zuversicht wuchs, als ich mir vorstellte, einigen Morlocks die Weichbirnen mit diesem Stück primitiven Maschinenbaus einzuschlagen. Ich steckte den Schürhaken in eine Gürtelschlaufe. Dort behinderte er mich zwar etwas, beruhigte mich andererseits aber enorm, durch sein Gewicht und die Solidität sowie die Reminiszenzen an Zuhause, an meinen Kamin.
Ich hielt die Kerze in die Luft. Die gespenstische Statue bzw. das Gebäude, das ich in der Nähe der Maschine ausgemacht hatte, wurde düster illuminiert. Es war tatsächlich irgendein Monument — eine kolossale Figur, die aus weißem Stein gehauen war, wobei ihre Form im flackernden Kerzenlicht nur schwer zu bestimmen war.
Ich ging auf das Monument zu. Unterdessen meinte ich, am Rande meines Blickfeldes ein Paar grauroter, sich weitender Augen zu sehen und einen weißen Rücken, der sich mit einem Schaben nackter Füße über die Sandfläche zurückzog. Ich legte eine Hand auf den im Gürtel steckenden Messingknüppel und ging weiter.
Die Statue stand auf einem Sockel, der aus Bronze zu bestehen schien, und war mit konturiert gerahmten, filigranen Paneelen besetzt. Der Sockel war fleckig, als ob er schon vor langer Zeit Grünspan angesetzt hätte. Die Statue selbst bestand aus weißem Marmor, und die Löwenskulptur hatte große Schwingen ausgebreitet, die über mir zu schweben schienen. Ich fragte mich, wie diese großen Steinplatten abgestützt wurden, denn ich konnte keine Verstrebungen erkennen. Vielleicht wurden sie von einem Metallrahmen gehalten, überlegte ich — oder vielleicht existierten auch in dieser verlorenen Zeit noch Elemente der Beherrschung der Schwerkraft, die ich auf meiner Passage durch das Zeitalter der Großen Architektur unterstellt hatte. Das Antlitz des Marmortieres war menschlich und auf mich gerichtet; ich glaubte, daß diese leeren Steinaugen mich anschauten, und da lag ein Lächeln, sardonisch und grausam, auf den wettergegerbten Lippen…
Und auf einmal erkannte ich diese Konstruktion; wenn da nicht die Angst vor den Morlocks gewesen wäre, hätte ich vor Freude über das Wiedersehen aufgeschrien! Dies war das Monument, das ich die Weiße Sphinx getauft hatte — eine Struktur, die ich exakt an dieser Stelle schon während meines ersten Fluges in die Zukunft gesehen hatte. Es war fast so, als ob ich einen alten Freund begrüßt hätte!
Ich streifte auf der sandigen Hügelkette umher, an der Maschine vorbei, und erinnerte mich daran, wie der Ort früher ausgesehen hatte. Hier war überall Wiese gewesen, umgeben von Malvensträuchern und purpurnen Rhododendrons — Büsche, die bei meiner ersten Ankunft ihre Blüten in einem Hagelsturm auf mich hatten niedergehen lassen. Und über die ganze Szenerie wachend, in diesem Hagel zuerst gar nicht zu erkennen, hatte sich die imponierende Gestalt der Sphinx erhoben.