Robert Silverberg
Zeitspringer
Man kann sich vorstellen, daß es im Himmel ein Telefonbuch gibt, aber es müßte gigantisch sein, weil es den vollständigen Namen und die Adresse jedes einzelnen Elektrons im Universum enthalten müßte. In der Hölle könnte es aber keines geben, denn in der Hölle werden die Insassen wie im Gefängnis oder beim Militär nicht nach dem Namen, sondern nach einer Nummer erfaßt. Sie haben keine Nummern, sie sind Nummern.
Daß die Zeit eine Strecke sei, der man entlang reiset, ist, genau genommen, ein ziemlich komplizierter Begriff; doch daß dies die Art sei, wie wir uns die Zeit der Gewohnheit nach vorstellen, ist jedermanns Meinung, sowohl der Gebildeten wie — was kurioser ist — der Ungebildeten… Wie sind wir zu dieser erstaunlichen Erkenntnis gelangt?
Für Michael Moorcock
1
Die überfüllte Welt sei schön, so hieß es. Die kristallinen Stadttürme, terrassiert übereinander, die rhythmischen Schwellungen einer andrängenden Menge an einem Schnellbootdock, der Tanz des Sonnenlichts auf einer Million schillernder Röcke, versammelt auf einem der großen Plätze — in solchen Dingen entfalte sich Schönheit, erklärten die Ästheten.
Quellen war kein Ästhet. Er war ein kleiner Bürokrat, ein bescheidener Beamter von angemessener Intelligenz und normalen Neigungen. Er betrachtete die Welt, wie sie sich ihm A. D. 2490 darstellte, und fand sie teuflisch. Quellen war unfähig, den verwickelten inneren Tanz zu vollführen, nach welchem grauenhafte Überfüllung als moderne Schönheit wegerklärt werden konnte. Er haßte sie. Wäre er Stufe Eins oder auch nur Stufe Zwei gewesen, hätte Quellen sich vielleicht in einer besseren Lage befunden, die neue Ästhetik zu schätzen, weil dann von ihm nicht verlangt worden wäre, mittendrin zu leben. Aber Quellen war Stufe Sieben. Die Welt sieht für jemand auf Stufe Sieben nicht genauso aus wie für jemand auf Stufe Zwei.
Trotzdem ging es Quellen, nahm man alles nur in allem, gar nicht so schlecht. Er hatte seine Bequemlichkeiten. Wider das Gesetz, freilich, erlangt durch Bestechung und Überredungskunst. Was Quellen getan hatte, war, streng genommen, schändlich, denn er hatte Besitz ergriffen von Dingen, auf die er keinen Anspruch hatte. Er hatte einen privaten Winkel der Welt eingesteckt, gerade so, als sei er Mitglied der Hohen Regierung — also von Stufe Eins oder Stufe Zwei. Da Quellen nichts von der Verantwortung der Hohen Regierung zu tragen hatte, gebührte ihm auch keines der Vorrechte.
Aber genommen hatte er sie sich. Es war verbrecherisch, ein Verrat am Ganzen. Aber irgendwo hat jeder Anspruch auf einen entscheidenden Charakterfehler. Wie jeder andere hatte Quellen mit hochfliegenden Träumen von Rechtschaffenheit angefangen. Wie fast jeder andere hatte er gelernt, sie aufzugeben.
Pöng.
Das war die Warnglocke. Irgend jemand zu Hause im elenden Gewirr von Appalachia wollte ihn sprechen. Quellen achtete nicht darauf. Er war in einer friedlichen Stimmung und hatte keine Lust, sie zu zerstören.
Pöng. Pöng. Pöng.
Es war kein drängendes Geräusch, nur ein aufdringliches, tief tönendes und sanftes, der Klang einer Bronzescheibe, getroffen von einem filzbespannten Hammer. Quellen, der nicht darauf einging, schaukelte unsicher in seinem Pneumosessel weiter und beobachtete die Krokodile, die schläfrig durch das Schlammwasser des Flusses glitten, der unterhalb seiner Veranda vorbeiströmte. Pöng. Pöng. Nach einiger Zeit verstummte die Glocke. Er blieb in wohliger Untätigkeit sitzen, spürte um sich den warmen Geruch grünen Wachstums und hörte die summenden Insektengeräusche in der Luft.
Das war das einzige an Eden, das Quellen nicht gefiel, das unaufhörliche Summen der häßlichen Insekten, die durch die stille, feucht-schwüle Luft fegten. In einer Beziehung stellten sie eine Invasion dar; sie waren für ihn Symbole des Lebens, das er bis zum Vorrücken auf Stufe Sieben geführt hatte. Damals war der Lärm das unaufhörliche Gesumme von Menschen gewesen, Menschen, die in einem riesigen Bienenkorb von Großstadt schwärmten, und Quellen verabscheute das. In Appalachia gab es natürlich keine richtigen Insekten. Nur dieses symbolische Summen.
Er stand auf, trat ans Geländer und blickte aufs Wasser hinaus. Er war ein Mann knapp vor den mittleren Lebensjahren, knapp über Mittelgröße, schlanker als früher einmal, mit widerspenstigen braunen Haaren, einer breiten, schweißbenetzten Stirn und sanften Augen von einer Färbung, die nicht ganz grün und nicht ganz blau war. Seine Lippen waren schmal und fest zusammengepreßt, was ihm einen Ausdruck der Entschlossenheit verlieh, den ein wenig kräftiges Kinn sofort Lügen strafte.
Spielerisch warf er einen Stein ins Wasser.
»Holt ihn!« rief er, als zwei Kroks lautlos auf den Wirbel im Wasser zuglitten, in der Hoffnung, einen fetten Klumpen Fleisch zu ergattern. Aber der Stein sank, schwarze Luftbläschen quollen herauf, und die Kroks stießen ihre spitzen Nasen leicht zusammen und glitten auseinander. Quellen lächelte.
Es war ein schönes Leben hier im Herzen der Dunkelheit, hier im tropischen Afrika. Samt Insekten und allem, schwarzem Schlamm und allem, feucht-schwüler Einsamkeit und allem. Sogar die Angst vor der Entdeckung war erträglich.
Quellen ging die Liste der guten Dinge durch. Marok? dachte er. Hier gab es keinen Marok. Keinen Koll, keinen Spanner, keinen Brogg, keinen Leeward. Keinen von ihnen. Aber erst recht keinen Marok. Ihn vermisse ich am wenigsten.
Was für eine Erholung war es, hier draußen bleiben zu können und nicht ihre summenden Stimmen ertragen, nicht schaudern zu müssen, wenn sie in sein Büro stürmten! Freilich war es unverantwortlich und unmoralisch von ihm, sich auf diese Weise als Übermensch einzurichten, als ein moderner Raskolnikow, für den kein Gesetz mehr galt. Quellen räumte das ein. Und doch, so sagte er sich oft, war die Lebensreise eine, die er nur einmal machen würde, und was würde am Ende bleiben, außer daß er einen Teil des Weges auf Stufe Eins zurückgelegt hatte?
Das war die einzige Freiheit, hier draußen.
Und das Beste war, fern von Marok, dem verhaßten Zimmergenossen, zu sein. Keine Sorgen mehr um seine Stapel ungespülten Geschirrs, seine Haufen von überall in dem winzigen gemeinsamen Zimmer verstreuten Büchern, seine trockene, tiefe Stimme, endlos am Videofon, wenn Quellen sich zu konzentrieren versuchte.
Nein. Hier gab es keinen Marok.
Und trotzdem, dachte Quellen traurig, trotzdem hatte sich der Friede, den er beim Bau dieses neuen Heims erwartete, aus irgendeinem Grund nicht eingestellt. Das war der Lauf der Welt: Befriedigung, die sich im Augenblick, da sie erreicht wurde, in nichts auflöste. Jahrelang hatte er mit bemerkenswerter Geduld auf den Tag gewartet, an dem er Stufe Sieben erreichen und das Recht erlangen würde, allein zu leben. Der Tag war gekommen, aber es hatte nicht genügt. So hatte er Afrika für sich gestohlen. Und nun, da er sogar das erreicht hatte, war das Leben einfach eine bedrückende Angst nach der anderen.
Ruhelos schleuderte er wieder einen Stein ins Wasser.
Pöng.
Während er verfolgte, wie die konzentrischen Kreise der Kräuselung sich auf der dunklen Wasseroberfläche ausbreiteten, wurde Quellen sich erneut der Warnglocke bewußt, die am anderen Ende des Hauses läutete. Pöng. Pöng. Pöng. Seine innere Unruhe verwandelte sich in dumpfe Vorahnung. Er schob sich aus dem Sessel und eilte zum Fongerät. Pöng.
Quellen schaltete es ein, aber nicht das Bild. Es war nicht leicht gewesen, es so einzurichten, daß alle Anrufe in seiner Wohnung daheim in Appalachia, eine halbe Welt entfernt, automatisch hierher umgeleitet wurden.