Quellen empfand angesichts der Unruhe, die er ausgelöst hatte, keine Freude. Mortensen zu verfolgen, war eine schlaue Idee, ja, aber es war manchmal gefährlich, allzu schlau zu sein. Quellen wußte, daß er Koll Unbehagen verursacht hatte. Das zahlte sich nie aus. Soviel zu erkennen war, hatte Koll auch Giacomin Unbehagen verursacht, und nun gab Giacomin das an Kloofman weiter. Das hieß, daß Quellens schlauer Vorschlag bis hinauf zur Spitze der Machthierarchie Unruhe und Ärger hervorrief. Als Quellen noch jünger und vom Ehrgeiz verzehrt war, den Hohen Rang von Stufe Sieben zu erreichen, wäre ihm nichts lieber gewesen, als in dieser Weise Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Jetzt war er aber auf Stufe Sieben, hatte die Alleinwohnung bekommen, die sein Traum gewesen war, und konnte sich von weiteren Beförderungen nicht mehr viel erhoffen. Außerdem belastete sein zutiefst illegales Versteck in Afrika sein Gewissen. Das letzte, was er sich wünschte, war, ein Mitglied der Hohen Regierung sagen zu hören: »Dieser Quellen ist sehr schlau — ermitteln Sie alles über ihn, was Sie ermitteln können.« Quellen verhielt sich jetzt am liebsten unauffällig.
Immerhin, er hatte die Idee mit Mortensen in sich nicht unterdrücken können. Er mußte amtlichen Verpflichtungen genügen, und das Ausmaß seiner privaten Abweichung von den Wohnvorschriften ließ ihn in seiner öffentlichen Pflicht um so gewissenhafter verfahren.
Bevor Quellen heimging, ließ er Stanley Brogg kommen.
Der korpulente Mitarbeiter sagte sofort: »Wir haben ein großes Netz nach dem Kerl ausgespannt, KrimSek. Es kann sich nur um Tage oder auch nur Stunden handeln, bis wir wissen, wer er ist.«
»Gut«, sagte Quellen. »Ich habe eine weitere Ermittlungsroute für Sie. Aber hier muß Vorsicht walten, weil sie offiziell noch nicht genehmigt ist. Ein Mann namens Donald Mortensen beabsichtigt, am 4. Mai seinen Zeitsprung auszuführen. Schlagen Sie in den Unterlagen nach, die Sie mir gegeben haben; so bin ich auf ihn gekommen. Überprüfen Sie sein Verhalten und seine Bekannten. Aber das muß mit äußerster Zurückhaltung geschehen. Ich kann das gar nicht stark genug betonen, Brogg.«
»Gut.«
»Wenn der Mann dahinterkommt, daß wir ihn überwachen, könnte uns das alle in Teufels Küche bringen. Degradierung oder Schlimmeres. Achten Sie also darauf. Nehmen Sie ihn ins Visier, aber er darf nicht das geringste merken, sonst ergeht es Ihnen schlecht.«
Brogg lächelte verschlagen.
»Sie wollen sagen, Sie stufen mich zurück, wenn ich einen Fehler mache?«
»Durchaus.«
»Ich glaube nicht, daß Sie das tun würden, KrimSek. Nicht mit mir.«
Quellen erwiderte den Blick des anderen unbeirrt. Brogg wurde in letzter Zeit frech und genoß die Macht, die er über Quellen hatte, allzu sehr. Seine zufällige Entdeckung von Quellens afrikanischer Villa war die große Qual in Quellens Leben.
»Verschwinden Sie«, sagte Quellen. »Und achten Sie darauf, bei Mortensen vorsichtig zu sein. Es ist durchaus möglich, daß diese Ermittlungen von der Hohen Regierung untersagt werden, und wenn das der Fall ist, sitzen wir alle in der Tinte, falls Denen bekannt wird, daß wir Mortensen aufgescheucht haben.«
»Ich verstehe«, sagte Brogg. Er ging.
Quellen fragte sich, ob es richtig gewesen war, das zu tun. Wie, wenn über Giacomin mitgeteilt wurde, daß man Mortensen in Ruhe lassen sollte? Nun, Brogg war da erfahren genug — manchmal sogar zu erfahren. Und es blieb wirklich nicht viel Zeit, bei Mortensen einzugreifen, falls die Zustimmung gegeben werden sollte. Quellen müßte das Projekt vorzeitig anlaufen lassen. Spekulativ, sozusagen.
Er hatte zunächst alles getan, was er konnte. Er überlegte, ob er Brogg beauftragen sollte, die ganze Angelegenheit zu bearbeiten, während er nach Afrika zurückkehrte, kam aber zu dem Schluß, daß das geheißen hätte, die Katastrophe auf sich zu ziehen. Er schloß sein Büro ab und verließ das Haus, um mit dem nächsten Schnellboot zu seiner kleinen Wohnung Stufe Sieben zurückzufahren. In den nächsten Wochen mochte er hie und da auf ein, zwei Stunden nach Afrika entwischen können, aber nie länger. Er saß in Appalachia fest, bis die Springerkrise vorüber war.
Quellen kehrte in seine Wohnung zurück und entdeckte, daß er es vernachlässigt hatte, seinen Speisenvorrat zu ergänzen. Da sein Aufenthalt in Appalachia lang zu werden drohte oder sogar von Dauer sein mochte, beschloß er, nachzufüllen. Manchmal bestellte Quellen telefonisch, aber nicht diesmal. Er brachte wieder das Zeichen ›Privat‹ an seiner Tür an und benützte die gewundene Flugrampe hinunter zum Warendepot, um sich für lange Zeit zu versorgen.
Auf dem Weg nach unten fiel ihm ein bleich wirkender Mann in einer weiten roten Tunika auf, der in umgekehrter Richtung die Rampe heraufkam. Quellen erkannte ihn nicht, aber das war nicht verwunderlich; im dichten Gedränge von Appalachia lernte man nie viele Leute kennen, nur eine Handvoll Nachbarn und Verwandte, dazu einige Personen vom Dienstpersonal, wie den Leiter des Warendepots.
Der bleiche Mann starrte Quellen neugierig an. Er schien ihm mit den Augen etwas mitzuteilen. Quellen fühlte sich dabei ausgesprochen unbehaglich. In seinem Beruf hatte er viel über die verschiedenen Arten von Belästigern gelernt, denen man auf den Straßen begegnen mochte. Die gewöhnliche sexuelle Sorte, natürlich, aber auch diejenigen, die sich heranschoben und einen in die Venen stachen, um die süchtig machende Dosis irgendeiner infernalischen Droge (wie Helidon) einzuspritzen, oder die unheimlichen Leute, die einem in der Menge Karzinogene an die Haut quetschten, oder vielleicht die Geheimagenten, die verstohlen eine Molekularsonde in die Haut stachen, welche jedes Wort eines Gesprächs in die Ferne übertrug. Solche Dinge kamen dauernd vor.
»Nehmen und lesen«, murmelte der Bleiche. Er streifte Quellen und stopfte ihm einen zerknüllten Minizettel in die Hand. Quellen konnte nicht ausweichen. Der Fremde hätte in diesem kurzen Augenblick alles mögliche mit ihm machen können; in diesem Augenblick hätte Quellens Knochenkalzium sich in Gallerte verwandeln oder sein Gehirn durch die Nasenlöcher herausrinnen können, all das, um die krankhaften Gelüste eines Rempelmörders zu befriedigen. Aber es hatte den Anschein, daß der Mann wirklich nur eine Art Werbung in Quellens Hand gedrückt hatte. Quellen faltete den Streifen auseinander, nachdem der Mann die Flugrampe hinauf verschwunden war, und las:
Das war alles. Augenblicklich trat Quellen als KrimSek in Aktion. Wie die meisten Gesetzesübertreter in öffentlichen Ämtern verfolgte er andere Gesetzesbrecher unerbittlich, und Lanoys Flugzettel roch nach Gesetzlosigkeit, nicht nur wegen der beleidigenden Art und Weise, sie von Person zu Person weiterzugeben, sondern auch durch das Angebot selbst. Betrieb Lanoy eine Art Stellenvermittlung? Aber das war Sache des Staates! Quellen fuhr herum, in der Absicht, den rasch entschwindenden bleichen Mann zu verfolgen. Er erhaschte einen letzten Blick auf die weite rote Tunika, dann war der Mann verschwunden. Nach dem Verlassen der Flugrampe konnte er überall hingegangen sein.
›Arbeitslos? Zu Lanoy‹
Quellen fragte sich, wer Lanoy sein und über welches Wundermittel er verfügen mochte. Er nahm sich vor, Leeward oder Brogg darauf anzusetzen.
Quellen verstaute den Streifen sorgfältig in seiner Tasche und betrat den Laden. Die bleigefaßte Tür öffnete sich vor ihm. Waren-Greifroboter huschten zwischen den Regalen dahin, führten Zählungen durch, erledigten Bestellungen. Der kleine Mann mit dem roten Gesicht, der den Laden führte — als Fassade für die Computer natürlich; welche Hausfrau wollte schon mit einem Computer tratschen? —, begrüßte Quellen mit ungewohnter Herzlichkeit.