»Ah, der KrimSek! Wir hatten lange nicht die Ehre, Krim-Sek«, sagte der rundliche Geschäftsmann. »Ich dachte schon, Sie sind umgezogen. Aber das kann nicht sein, oder? Sie hätten mich verständigt, wenn Sie befördert worden wären?«
»Ja, Greevy, das ist richtig. Ich war in der letzten Zeit einfach nicht da. Sehr viel zu tun jetzt. Ermittlungen.« Quellen zog die Brauen zusammen. Er wünschte nicht, daß seine häufige Abwesenheit zum Tagesgespräch wurde. Rasch, nervös griff er nach dem schmierig-grauen Einband des Grundkatalogs und notierte Nummern. Büchsennahrung, Preßkonzentrate, Grundnahrungsmittel, alles Nötige. Er kritzelte seine Liste und hielt sie vor die Sensoren, während der Ladenbesitzer wohlwollend zuschaute.
»Ihre Schwester war gestern hier«, sagte Greevy.
»Helaine? Ich habe sie in der letzten Zeit kaum gesehen.«
»Sie sieht schlecht aus, KrimSek. Schrecklich dünn. Ich habe etwas Kalomix für sie programmiert, aber das wollte sie nicht. Ist sie bei den Sanis gewesen?«
»Das weiß ich leider nicht«, erwiderte Quellen. »Ihr Mann ist medizinisch ausgebildet. Kein Arzt, nur Techniker, aber wenn mit ihr etwas nicht in Ordnung ist, müßte er das diagnostizieren können. Falls sein Verstand noch funktioniert. Beim Rest ist das gewiß nicht der Fall.«
»Das ist ein bißchen ungerecht, KrimSek. Ich bin sicher, Mr. Pomrath wäre froh, öfter arbeiten zu können. Ich weiß es. Niemand ist gern untätig. Ihre Schwester sagt, daß er sehr leidet. Um ganz offen zu sein« — der Ladeninhaber beugte sich vor und senkte die Stimme zu einem vertraulichen Flüstern —, »ich wollte das gar nicht ausplaudern, aber gegen Sie herrscht in der Familie ein wenig Bitterkeit. Man meint, daß Sie vielleicht mit Ihrem politischen Einfluß —«
»Ich kann gar nichts für sie tun! Überhaupt nichts!« Quellen fiel auf, daß er schrie. Was ging es diesen verdammten Krämer an, daß Norman Pomrath arbeitslos war? Wie konnte er es wagen, sich einzumischen? Quellen rang um Beherrschung. Er fand sie auf irgendeine Weise, entschuldigte sich für seinen Ausbruch, verließ rasch den Laden.
Er trat kurz auf die Straße hinaus und sah die Menschenmassen vorbeiströrnen. Kleidung jeder Art und Farbe. Unaufhörliches Gerede. Die Welt war ein Bienenkorb, ungeheuer übervölkert, mit jedem Tag mehr, trotz aller Geburtenbeschränkungen. Quellen sehnte sich nach dem stillen Zufluchtsort, den er unter so großen Kosten und mit solcher Angst erbaut hatte. Je mehr er von den Krokodilen sah, desto weniger schätzte er die Gesellschaft des Pöbels, der in den verstopften Städten wimmelte.
Natürlich war diese Welt geordnet. Jedermann numeriert, etikettiert, registriert, kontrolliert, um nicht zu sagen, ständig observiert. Wie sonst sollte man eine Welt von elf oder zwölf oder vielleicht auch dreizehn Milliarden Menschen regieren, wenn man ihr nicht eine Ordnung auferlegte? Trotzdem wußte gerade Quellen, daß unter der oberflächlichen Ordnung alle möglichen beschämenden ungesetzlichen Dinge vorgingen — nicht, wie bei Quellen, gerechtfertigte Bemühungen, einem unerträglichen Dasein zu entfliehen, sondern zwielichtige, gemeine, unverzeihliche Dinge. Die Drogensucht, zum Beispiel, dachte er. Laboratorien auf fünf Kontinenten brachten neue Drogen so rasch hervor, wie die alten Abhängigkeiten beseitigt wurden. Zur Zeit brachte man tödliche Alkaloide unter die Leute, und das auf die schamloseste Weise. Da ging einer in ein Schnüffellokal, in der Hoffnung, sich eine halbe Stunde harmlosen Halluzinationsvergnügens zu kaufen; statt dessen erwarb er eine teuflische Sucht. Oder auf einem Schnellboot fuhr eine Männerhand über den Körper einer Frau; scheinbar war das nichts Anstößigeres als eine unerwünschte Zärtlichkeit, und zwei Tage später ging der Frau auf, daß sie süchtig geworden war und medizinische Hilfe brauchte, um herauszufinden, wodurch.
Und dergleichen mehr, dachte Quellen. Häßliche, unmenschliche Dinge. Wir sind entmenschlicht. Wir schädigen einander ohne Not, nur deshalb, weil wir Schaden anrichten wollen. Und wenn wir Hilfe suchen, erleben wir nichts als Angst und Zurückzucken. Bleib weg, bleib weg! Laß mich in Ruhe!
Und dann dieser Lanoy, dachte Quellen, während er den Streifen in der Tasche betastete. Da war eine Gaunerei im Gange, aber verdeckt genug, um der Aufmerksamkeit des Sekretariats Verbrechen entgangen zu sein. Was sagten die Datenspeicher über Lanoy? Wie brachte Lanoy es fertig, seine illegale Betätigung vor Familie oder Wohngenossen zu verbergen? Ganz gewiß lebte er nicht allein. Ein Gesetzloser von solcher Art konnte nicht Stufe Sieben sein. Lanoy — das mußte ein raffinierter Prolet sein, der einen Marktwirtschaftsschwindel zugunsten der eigenen Tasche betrieb.
Quellen empfand eine seltsame Artgenossenschaft mit dem unbekannten Lanoy, so sehr es ihm widerstand, das zuzugeben. Auch Lanoy lehnte sich auf. Er war ein ausgekochter Bursche, vielleicht lohnte es sich, ihn zu kennen. Quellen runzelte die Stirn und kehrte rasch in seine Wohnung zurück.
6
Peter Kloofman lag der Länge nach in einer riesigen Wanne voll Nährflüssigkeit, während die Techniker seinen linken Lungenflügel austauschten. Seine Brustklappe war an den Scharnieren weit geöffnet, genauso, als sei Kloofman ein Roboter bei der Reparatur. Er war kein Roboter. Er war bloß sterblich Fleisch und Blut, aber nicht sehr sterblich. In einem Alter von hundertzweiunddreißig Jahren hatte Kloofman sich schon so vielen Organverpflanzungen unterzogen, daß von seiner Ursprungsperson bis auf den grauen Klumpen seines listigen Gehirns nicht mehr viel übriggeblieben war, und sogar diesem war der Laserstrahl des Chirurgen nicht fremd. Kloofman war gern bereit, dergleichen über sich ergehen zu lassen, um seine Existenz, also seine unbegrenzte Macht, zu erhalten. Er war real. Danton war es nicht. Kloofman zog es vor, das beizubehalten.
»David Giacomin ist hier«, säuselte eine Stimme aus der Sonde in seinem Schädel.
»Lassen Sie ihn eintreten«, sagte Kloofman.
Vor mehr als zwanzig Jahren hatte er sich so umbauen lassen, daß er die Staatsgeschäfte selbst dann weiterführen konnte, wenn er sich regenerierenden Eingriffen unterzog. Anders wäre es unmöglich gewesen, an der Macht zu bleiben. Kloofman war der einzige Angehörige von Stufe Eins aus Fleisch und Blut, und das hieß, daß alle Fäden der Macht bei ihm zusammenliefen. Er delegierte so viel wie möglich an die Konstruktion aus Zahnrädern und Relais, die den Namen Benjamin Danton trug; aber Danton war schließlich nicht real und auf lange Sicht nur der verlängerte Arm des unermüdlichen Kloofman. Es war nicht immer so gewesen. Vor der Affäre Flammen-Bess hatte es drei Mitglieder von Stufe Eins gegeben, und noch früher war Kloofman nur einer von fünf gewesen.
Er machte aber auf diese Weise zufriedenstellend weiter. Und es gab keinen Grund, weshalb er seine einzigartige Last nicht noch weitere sechs- oder siebenhundert Jahre weitertragen sollte. Kein Mensch in der ganzen Weltgeschichte hatte je die Macht von Peter Kloofman besessen. In seinen vereinzelten Augenblicken der Erschöpfung empfand er das als tröstlichen Gedanken.
Giacomin kam herein. Er blieb in ruhiger Aufmerksamkeit vor der Nährwanne stehen, in der Kloofman lag. Kloofman schätzte Giacomin sehr. Er war einer von ungefähr zweihundert Zweiern, die das unentbehrliche Traggerüst für die Hohe Regierung darstellten. Zwischen Stufe Zwei und Stufe Drei bestand qualitativ eine Kluft. Stufe Zwei verstand die Art, wie die Welt geführt wurde; Stufe Drei dagegen genoß große Bequemlichkeit, besaß aber kein wahres Verständnis. Für einen Chirurgen oder Verwaltungschef auf Stufe Drei war Danton vermutlich recht, und es gab noch andere ungenannte Einer. Giacomin, eingeweiht in das Wissen eines Zweiers, kannte die Wahrheit.
»Nun?« fragte Kloofman und sah mit beiläufigem Interesse zu, als die Chirurgen die graue, schaumige Masse der Ersatzlunge in seinen klaffenden Brustkorb senkten. »Was gibt es heute, David?«