»Springer.«
»Ist man schon auf das Verfahren gestoßen?«
»Noch nicht«, erwiderte Giacomin. »Aber man ergreift Maßnahmen. Es wird nicht lange dauern.«
»Gut, gut«, murmelte Kloofman. Diese gesetzwidrigen Zeitreisen störten ihn mehr, als er zugeben wollte. So ging das trotz aller Anstrengung des Staates, das bis zum Ausgangspunkt zu verfolgen, weiter, und das war ärgerlich. Aber es war ja auch erst einige Tage her, seitdem Kloofman Nachforschungen angeordnet hatte. Viel ärgerlicher war die Tatsache, daß er trotz seiner ganzen Macht nicht einfach die Hand ausstrecken, diesen Zeitprozeß ergreifen und seinen eigenen Zwecken dienstbar machen konnte. Der Prozeß war unabhängig von den Mitteln der Hohen Regierung entwickelt worden und damit ein deutlicher Hinweis für Kloofman, daß nicht einmal er allmächtig war.
Giacomin sagte: »Da ist ein Problem. Sie sind auf die Idee gekommen, einen Sprungwilligen ausfindig zu machen und ihn am Sprung zu hindern.«
Kloofman zuckte in seiner Wanne. Flüssigkeit spritzte in seine Brusthöhle. Homöostatische Pumpen entfernten sie ungerührt, ein Chirurg preßte die Lippen zusammen und machte sich daran, den neuen Lungenflügel wortlos anzuheften. Der Weltführer sagte: »Ein registrierter Springer? Einer, der verzeichnet ist?«
»Ja.«
»Haben Sie das erlaubt?«
»Ich komme damit zu Ihnen. Ich habe es ausgesetzt, bis die Entscheidung getroffen ist.«
»Abwürgen!« sagte Kloofman nachdrücklich, »Ohne jeden Zweifel. Ich gehe sogar noch weiter: Sorgen Sie klipp und klar dafür, daß bei registrierten Springern nichts unternommen wird. Das ist ein eindeutiger Befehl. Jeder, der gegangen ist, muß gehen. Ja? Das ist die Entscheidung, David. Sie ergeht an alle Abteilungen, die auch nur entfernt mit den Springern zu tun haben.« Während Kloofman das sagte, spürte er im linken Oberschenkel ein schwaches Brennen. Dämpfung; er geriet wohl in zu starke Erregung. Das automatische Überwachungssystem glich durch chemische Mittel aus, weitete Arterien, durchflutete seinen Körper mit nutzvollen Enzymen. Er war zu mehr fähig. Bewußt zwang er sich, sogar angesichts dieser Bedrohung ruhig zu werden. Giacomin wirkte besorgt.
Kloofman wurde gelassen.
»Das war alles, was ich mitteilen wollte«, sagte Giacomin. »Ich gebe Ihre Anweisungen weiter.«
»Ja. Und verständigen Sie die Danton-Programmierer. Alles, was durch sein Büro geht, sollte dieselben Vermerke tragen. Das ist viel zu wichtig, als daß man es übergehen dürfte. Ich begreife nicht, wie ich es versäumen konnte, die Möglichkeit vorauszusehen.«
Giacomin entfernte sich, ging vorsichtig um den Tank herum und verließ den Raum, in dem die Luft ein wenig klamm wirkte. Kloofman betrachtete die grünen Glaswände mißvergnügt. Es war ihm klar, daß er hätte vorgewarnt werden müssen. Es war die Aufgabe der Zweier, ihn rechtzeitig auf Fallgruben hinzuweisen. Vom Springerproblem wußte man schon seit geraumer Zeit. Bereits 83 waren Eventualpläne für den Umgang mit dem Springerproblem entwickelt worden. Warum hatten sie das nicht erfaßt? Ausgerechnet das zu vergessen!
Kloofman verzieh sich, das übersehen zu haben. Die anderen dagegen — sie durften mit einer Zurückstufung rechnen.
Laut sagte er: »Man stelle sich vor, was geschehen wäre, wenn jemand damit angefangen hätte, bei den registrierten und nachgewiesenen Springern herumzupfuschen. Stücke aus der Vergangenheit reißen — na, das hätte die Welt auf den Kopf stellen können!«
Die Chirurgen antworteten nicht. Ihre Einstufung stand auf dem Spiel, wenn sie Kloofman je zu Themen außerhalb ihrer eigenen beruflichen Tätigkeit ansprachen. Sie schlossen seinen Brustkorb und fuhren mit Anemostaten darüber. Der Sofortheilungsprozeß begann. Die Temperatur im Nährbad begann zu sinken, als die selbsttätigen Regulatoren Kloofman auf seine Rückkehr zu unabhängiger Bewegungsfreiheit vorbereiteten.
Er war stark erschüttert, nicht durch postoperativen Schock — den gab es nicht mehr —, sondern durch die Gedanken an das beinahe Geschehene. Einmischung in die Vergangenheit! Springer aus der Matrix holen! Nimm einmal an, dachte er gereizt, irgendein Bürokrat von Stufe Sieben oder Neun oder in diesem Bereich wäre auf eigene Faust vorgegangen, um durch dynamisches Handeln eine rasche Beförderung zu erreichen, und hätte ein paar bekannte Springer vor ihrer Abreise festgenommen. Damit hätte er das Gefüge der Zeitlinie völlig durcheinandergebracht und die Vergangenheit unwiderruflich verändert.
Alles hätte anders sein können, dachte Kloofman.
Ich hätte ein Hausmeister werden können, ein Techniker, einer, der Fieberpillen unter der Hand verkauft. Ich wäre vielleicht nie geboren worden. Oder ich wäre auf Stufe Sieben gelandet, Danton wäre real und an der Macht. Oder es hätte totale Anarchie eintreten können, keine Spur von einer Hohen Regierung. Alles. Einfach alles. Eine völlig andere Welt. Die Verwandlung hätte sich eingeschlichen wie ein Dieb in der Nacht, und der Umbau der Vergangenheit wäre natürlich nicht zu entdecken gewesen. Ich hätte niemals gewußt, daß sich für mich etwas verändert hätte. Vielleicht hat es schon einige Veränderungen gegeben, dachte Kloofman plötzlich.
War das möglich?
Waren schon zwei oder drei Springer durch irgendeinen übereifrigen Beamten an ihrem nachgewiesenen Absprung gehindert worden? Und hatten sich grundlegende Veränderungen in den historischen Mustern der vergangenen fünf Jahrhunderte ergeben, Veränderungen, die niemals zu erkennen waren? Kloofman empfand plötzlich lähmend die Unbeständigkeit des Universums. Da war er, siebenhundert Meter tief unter der Erdoberfläche, wie immer am Grund der Zivilisation lebend, denn die Hohe Regierung nahm die unterste bewohnte Etage ein, und seit Jahrzehnten besaß er absolute Macht von einer Art, wie nicht einmal Attila oder Dschingis Khan oder Napoleon oder Hitler sie im entferntesten hätten begreifen können. Trotzdem konnte er fühlen, wie die Wurzeln der Vergangenheit rings um ihn wie zerfetzte Schnüre auseinanderrissen. Das verursachte ihm Übelkeit. Irgendein gesichtsloser Niemand, ein bloßer Staatsgehilfe, konnte durch einen harmlosen Schnitzer alles ruinieren, und es gab nichts, was Kloofman tun konnte, um es zu verhindern. Es hatte vielleicht schon begonnen.
Ich hätte dieses Springer-Unternehmen nie anfangen sollen, dachte Kloofman.
Doch das war verkehrt gedacht, wie er wußte. Er hatte das Richtige getan, aber sorglos, ohne die Gefahren vollständig in Betracht zu ziehen. Bevor er seine Bürokratie darauf ansetzte, den Transporteur der Zeitspringer zu fassen, hätte er strenge Anweisungen gegen Eingriffe in die Vergangenheit ergehen lassen sollen. Er zitterte bei dem Gedanken an die Verwundbarkeit, die er sich selbst verdankte. Zu jeder Zeit seit 2486 hätte sein ganzes, über so viele Jahre hinweg mühsam aufgebautes Machtgefüge durch die ahnungslose Laune eines Subalternen ruiniert werden können.
Die Stiche eines Dutzends homöostatischer Injektionen erinnerten Kloofman daran, daß er erneut die Ruhe verlor.
»Holt Giacomin«, sagte er.
Der Vizekönig erschien wenige Augenblicke danach, verwundert über den barschen Ruf. Kloofman beugte sich schwerfällig vor, stemmte sich halb aus dem Tank, und die Servomechanismen in seinem Körper schrillten in blechernem Widerspruch.
»Ich wollte nur sicherstellen, daß meine Anweisung gründlich verstanden worden ist«, sagte er. »Kein Vorgehen gegen Springerabreisen. Keines. Gar nichts. Klar?«
»Versteht sich.«
»Mache ich Ihnen Sorgen, David? Halten Sie mich für einen geschwätzigen alten Mann, dessen Hirn ausgeschabt gehört? Lassen Sie sich sagen, warum ich mir hier Sorgen mache. Ich kontrolliere die Gegenwart und bis zu einem gewissen Grad die Zukunft, ja? Richtig. Aber nicht die Vergangenheit. Wie kann ich auf die Vergangenheit Einfluß nehmen? Ich sehe einen ganzen Zeitbereich, der sich meiner Autorität entzieht. Ich gebe zu, daß mich das erschreckt. Halten Sie meine Autorität über die Vergangenheit aufrecht, David. Sorgen Sie dafür, daß sie unverletzlich bleibt. Was geschehen ist, muß geschehen.«