»Ich habe bereits Maßnahmen ergriffen, um dafür zu sorgen«, sagte Giacomin.
Kloofman entließ ihn ein zweitesmal. Er fühlte sich beruhigt, aber nicht genügend. Er ließ Mauberley kommen, den Zweier, der für Danton verantwortlich war. Als einer, der sich praktisch als unsterblich betrachtete, wendete Kloofman nicht viel Zeit dafür auf, Thronerben einzusetzen, hatte aber hohe Achtung vor Mauberley und sah ihn als einen möglichen Nachfolger. Mauberley trat ein. Er war sechzig Jahre alt, kräftig und muskulös, mit flach wirkendem Gesicht und dichten, störrischen Haaren. Kloofman unterrichtete ihn kurz über die Neuentwicklung.
»Giacomin ist bereits an der Arbeit«, sagte er. »Sie befassen sich ebenfalls damit. Redundanz, das ist das Geheimnis wirksamen Regierens. Veranlassen Sie, daß Danton eine öffentliche Erklärung abgibt. Sie soll bis Stufe Sieben verbreitet werden. Es ist sehr dringend!«
»Glauben Sie, daß es als Folge eines Vorgehens gegen Springer schon Veränderungen in der Vergangenheit gegeben hat?«
»Nein. Aber es könnte sein. Wir würden es nie wissen.«
»Ich kümmere mich darum«, sagte Mauberley und ging.
Kloofman ruhte. Nach einiger Zeit ließ er sich aus dem Nährbad nehmen und in sein Büro bringen. Seit sechzehn Jahren war er nicht mehr an der Oberfläche gewesen. Die Oberwelt war für ihn ein wenig unwirklich geworden, aber das empfand er nicht als Nachteil, weil er sehr wohl wußte, daß für die meisten Bewohner der Oberwelt er ein wenig oder auch mehr als ein wenig unwirklich war. Wechselseitigkeit, dachte er. Das Geheimnis wirksamen Regierens. Kloofman lebte in einem Komplex verschachtelter Tunnels, die sich über Hunderte von Meilen ausdehnten. Zu jedem Zeitpunkt waren Maschinen mit funkelnden Klauen energisch an der Arbeit, sein Reich auszudehnen. Er hoffte, in ungefähr zehn Jahren die ganze Welt mit einem ununterbrochenen Netz von Zugangsrouten der Hohen Regierung umgürten zu können. Sein persönlicher Midgard-Drache als Transportmittel. Streng genommen war das nicht erforderlich; er konnte ebenso wirksam von einem einzelnen Zimmer wie von jedem Punkt in einem die Welt umspannenden Tunnel aus regieren. Aber er hatte seine Launen. Was nützt es, oberster Führer der gesamten Welt zu sein, fragte sich Kloofman, wenn ich mir nicht gelegentlich eine kleine Laune leisten darf?
Er bewegte sich auf surrenden Rollen zum zentralen Kontrollraum und ließ sich von seinen Mitarbeitern anschließen. Es langweilte ihn, sich auf Worte verlassen zu müssen, was sein Wissen über die äußeren Vorgänge betraf. Einer der vielen chirurgischen Eingriffe im Lauf der Jahre hatte einen direkten Nervenanschluß ermöglicht; Kloofman konnte direkt in den Datenstrom eintauchen und tat das auch. Er wurde zu einem Nebenrelais des Computernetzes selbst. Dann, erst dann überwältigte ihn eine Art Ekstase.
Er nickte, und der Datenfluß begann.
Fakten. Geburten und Todesfälle. Krankheitsstatistiken, Transportbeziehungen, Energiepotential, Verbrechenszahlen. Synapse um Synapse preßte sich zusammen, während Kloofman das alles aufnahm. Hoch über ihm gingen Milliarden Menschen ihren täglichen Verrichtungen nach, und er drang auf eine gewisse Weise in das Leben jedes einzelnen von ihnen ein, sie in das seine. Seine Wahrnehmungen waren natürlich begrenzt. Er konnte einzelne Abweichungen in den Daten nur als kurze Stöße wahrnehmen. Aber er vermochte sie fortzuspinnen. Er wußte, daß eben in diesem Augenblick ein Springer sich zum Absprung anschickte. Ein Leben wurde aus der Gegenwart weggenommen. Was war mit der Masse? Blieb sie erhalten? Die Daten über die planetarische Masse berücksichtigten die Möglichkeit einer plötzlichen totalen Subtraktion nicht. Hundertachtzig Pfund, schlagartig hier weggenommen und ins Gestern gesteckt — wie konnte das möglich sein? fragte sich Kloofman. Aber es geschah. Die Unterlagen zeigten es. Tausende von Springern, aus dieser Zeit gerissen, in diejenige seiner Vorgänger versetzt. Wie? Wie nur?
Peter Kloofman wischte den Gedanken aus seinem pulsierenden Gehirn. Belanglos. Worauf es ankam, war die plötzliche, unvorstellbare Möglichkeit, daß die Vergangenheit verändert werden mochte, daß ihm all das durch eine wahllose Schwankung genommen wurde, gegen die es keine Abwehr gab. Das erfüllte ihn mit Entsetzen. Er stopfte sein Hirn mit Daten voll, um die Möglichkeit totalen Verlustes zu ertränken. Er spürte, wie die Lust sich einstellte.
Cäsar, hast du jemals erlebt, daß die ganze Welt auf einmal durch einen Kopf rann?
Napoleon, konntest du dir auch nur vorstellen, wie es sein mochte, direkt an die Großcomputer angeschlossen zu sein?
Sardanapal, gab es Freuden wie diese in Ninive?
Kloofmans korpulenter Leib bebte. Das Geflecht dünnster Kapillardrähte unmittelbar unter seiner Haut leuchtete. Er hörte auf, Peter Kloofman zu sein, Führer der Welt, einziges menschliches Mitglied von Stufe Eins, gütiger Despot, weiser Planer, zufälliger Erbe der Zeitalter. Nun war er jedermann, den es gab. Ein Strom kosmischer Energie wallte in ihm auf. Das war das wahre Nirwana! Das die höchste Einheit! Das der Augenblick höchsten Entzückens!
In einem solchen Augenblick konnte man nicht darüber brüten, wie rasch ihm das alles genommen werden mochte.
7
Helaine Pomrath sagte: »Norm, wer ist Lanoy?«
»Wer?«
»Lanoy. L-A-N-«
»Wo hast du den Namen gehört?«
Sie zeigte ihm den Minizettel und beobachtete scharf sein Gesicht. Seine Augen zuckten. Er war aus dem Gleichgewicht.
»Das habe ich gestern abend in deiner Tunika gefunden«, sagte sie. »›Arbeitslos? Zu Lanoy‹, steht da. Ich habe mir nur überlegt, wer das sein und was er für dich tun kann.«
»Er — äh — betreibt eine Art Stellenvermittlung, glaube ich. Ich weiß es nicht genau.« Pomrath wirkte zutiefst verlegen. »Jemand hat mir das zugesteckt, als ich das Schnüffellokal verließ.«
»Was soll das nützen, wenn keine Adresse draufsteht?«
»Man soll den Dingen wohl nachgehen«, meinte Pomrath. »Suchen, sich als Detektiv bestätigen, ich weiß nicht. Um ehrlich zu sein, ich hatte das schon ganz vergessen. Gib her.«
Sie gab ihm den Streifen. Er steckte ihn rasch in die Tasche. Helaine gefiel es nicht, mit welcher Schnelligkeit er das belastende Schriftstück wegräumte. Sie hatte zwar nicht einmal entfernt eine Ahnung, was es bedeutete, aber es fiel ihr nicht schwer, Schuldbewußtsein und Verlegenheit ihres Mannes zu erkennen.
Vielleicht hat er sich eine Überraschung für mich ausgedacht, sagte sie sich. Vielleicht ist er schon bei diesem Lanoy gewesen und hat etwas unternommen, um Arbeit zu bekommen, wollte es mir aber erst nächste Woche sagen, wenn wir unseren Hochzeitstag haben.
Und ich habe es ihm durch meine Fragen verdorben. Ich hätte es eine Weile auf sich beruhen lassen sollen.
Ihr Sohn Joseph trat splitternackt von der Bodenplatte des Molekularbades. Seine Schwester, ebenso nackt, stieg hinauf. Helaine beschäftigte sich damit, das Frühstück zu programmieren.
»Wir lernen heute in der Schule Geographie«, sagte Joseph.
»Wie schön«, meinte Helaine zerstreut.
»Wo ist Afrika?« fragte der Junge.
»Weit weg. Irgendwo auf der anderen Seite des Ozeans.«
»Kann ich nach Afrika gehen, wenn ich groß bin?« fragte Joseph.
Von der Dusche her ertönte ein schrilles Kichern. Marina fuhr herum und sagte: »Afrika, da leben die Zweier! Wirst du ein Zweier sein, Jo-Jo?«
Der Junge starrte seine Schwester finster an.
»Vielleicht. Vielleicht sogar ein Einer. Woher willst du das wissen? Du wirst gar nichts. Ich habe schon was, das du nicht hast.«
Marina streckte ihm die Zunge heraus. Trotzdem drehte sie sich herum und versteckte ihren unentwickelten neunjährigen Körper vor seinen bohrenden Augen. Aus seiner Ecke des Zimmers schaute Pomrath zum Fakband des Morgens hinauf und brummte: »Hört auf damit! Jo-Jo, zieh dich an! Marina, du duschst dich fertig!«