»Er geht nicht«, sagte Helaine.
»Er sucht doch nach Lanoy, oder?« meinte Beth.
»Alles, was er hatte, war der Streifen. Da stand nicht einmal eine Adresse. Er sagte, er wüßte nicht, wo Lanoy zu finden sei. Und wir wissen auch gar nicht, ob Lanoy mit den Springern etwas zu tun hat.«
Beths Augen funkelten.
»Lanoys Leute sind mit ihm in Verbindung«, sagte sie. »Das heißt, sie können ihn jederzeit erreichen. Und er sie. Und sie werden ihn fortschicken. Er wird Springer werden, Helaine. Er muß.«
Ein Schnellboot brachte sie zu dem auffälligen Wolkenkratzer, der das Sekretariat Verbrechen beherbergte. Beharrlichkeit am Empfang erbrachte Helaine die Erkenntnis, daß ihr Bruder heute im Büro war und sie vielleicht empfangen würde, wenn sie bereit sei, eine Weile zu warten. Sie erbat einen Termin bei ihm. Die Maschine verlangte ihren Daumenabdruck. Sie gab ihn und setzte sich dann in ein mit düster rotem Stoff ausgekleidetes Vorzimmer und wartete.
Helaine war es nicht gewöhnt, sich in die Welt von Bürogebäuden und wandelnden Servomechanismen hinauszuwagen. Sie blieb in der Nähe ihrer Wohnung und kaufte über Fernbedienung ein. Die Innenstadt — die Welt am Ende der Schnellbootstrecken — war für sie erschreckend. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben. In einer so ernsten Angelegenheit mußte sie ihrem Bruder am Schreibtisch direkt gegenübersitzen, damit er ihr nicht mit einer Schalterdrehung entwischen konnte. Sie war außer sich vor Angst.
»Der KrimSek hat jetzt Zeit für Sie«, erklärte ihr eine tonlose, unpersönliche Vocoderstimme.
Sie wurde zu ihrem Bruder geführt. Quellen stand auf, ließ ein kurzes, unbehagliches Lächeln aufblitzen und winkte sie zu einem Sessel. Der Stuhl packte sie und begann ihre Rückenmuskeln zu kneten. Helaine zuckte erschrocken weg, als die unsichtbaren Hände im Sessel sich über ihre Oberschenkel und das Gesäß hermachten. Die Rückkopplungs-Sensoren des Stuhls registrierten ihre Stimmung, die Bestrebungen wurden eingestellt.
Sie sah ihren Bruder unsicher an. Quellen schien sich bei ihr so unbehaglich zu fühlen wie sie bei ihm; er zupfte an seinem Ohr, preßte die Lippen zusammen, ließ die Fingerknöchel knacken. Sie waren einander praktisch Fremde. Sie trafen sich bei Familienanlässen, aber schon seit langer Zeit hatte es keine echte Verbindung mehr zwischen ihnen gegeben. Er war einige Jahre älter als sie. Früher einmal waren sie sich sehr nah gewesen, eng verbundene Geschwister, die einander neckten und piesackten, ganz so, wie jetzt Joseph und Marina. Helaine konnte sich an ihren Bruder als Jungen erinnern, der in ihrer Einzimmerwohnung verstohlen auf ihren Körper blickte, an ihren Haaren zerrte, Hilfe bei den Hausaufgaben leistete. Dann war er für den Staatsdienst ausgebildet worden und hatte von da an nicht mehr auf sinnvolle Weise zu ihrer Welt gehört. Jetzt war sie eine überbeanspruchte Hausfrau und er ein vielbeschäftigter Beamter, und sie hatte undeutlich Angst vor ihm.
An die drei Minuten tauschten sie kleine Freundlichkeiten über häusliche Dinge aus. Helaine erzählte von ihren Kindern, ihrem Gerät für Sozialgewissen in der Wohnung, ihrem persönlichen Leseprogramm. Quellen sagte nur wenig. Er war Junggeselle und dadurch noch weiter von ihr entfernt. Helaine wußte, daß ihr Bruder mit irgendeiner Frau zusammenlebte, die Judith hieß, aber er sprach nur selten von ihr und schien kaum je an sie zu denken. Manchmal argwöhnte Helaine, daß es Judith gar nicht gab — daß Quellen sie als Tarnung für ein einsam ausgeübtes Laster benützte, das ihm lieber war, oder, schlimmer noch, für eine homosexuelle Beziehung. Schwulsein war heutzutage akzeptabel; es trug dazu bei, die Geburtenrate niedrig zu halten. Aber Helaine fand die Vorstellung, ihr Bruder könnte an dergleichen teilhaben, nicht erfreulich.
Sie machte dem ziellosen Gerede dadurch ein Ende, daß sie nach Judith fragte.
»Geht es ihr gut? Du hast dein Versprechen, uns mit ihr zu besuchen, nie gehalten, Joe.«
Quellen wirkte, als Judiths Name fiel, genauso verlegen wie Norm Pomrath, als Helaine ihn nach Lanoy gefragt hatte. Er sagte ausweichend: »Ich habe das bei ihr erwähnt. Sie hält es für gut, dich und Norm kennenzulernen, aber noch nicht gleich. Judith scheut ein wenig davor zurück, deine Kinder kennenzulernen. Kinder bringen sie aus der Fassung. Aber ich bin sicher, das gibt sich noch.« Er ließ wieder das schnelle, gezwungene Lächeln aufblitzen. Dann schob er das delikate Thema Judith beiseite, indem er zur Sache kam. »Ich bin sicher, das ist nicht nur ein freundschaftlicher Besuch, Helaine.«
»Nein. Es geht um Dienstliches. Ich ersehe aus den Fakbändern, daß du die Springer unter die Lupe nimmst.«
»Ja. Stimmt.«
»Norm will springen.«
Quellen richtete sich steif auf, die linke Schulter höher als die rechte.
»Wie kommst du darauf? Hat er dir das selbst gesagt?«
»Nein, natürlich nicht. Aber ich habe den Verdacht. Er ist in letzter Zeit sehr deprimiert, weil er keine Arbeit hat und so.«
»Das ist bei ihm nichts Neues.«
»Aber es ist schlimmer geworden. Du solltest hören, wie er redet. Er ist so verbittert, Joe. Er redet absoluten Unsinn, nur eine Flut zorniger Worte, die keinerlei Sinn ergeben. Wenn ich mir das nur merken könnte! Er geht auf eine Art psychologische Explosion zu, das weiß ich. Ich spüre, wie es sich in ihm anstaut.« Sie zuckte zusammen. Der Sessel fing wieder an, sie zu massieren. »Er hat seit Monaten nicht mehr gearbeitet, Joe.«
»Das ist mir klar«, sagte Quellen. »Die Hohe Regierung fördert eine ganze Reihe von Programmen zur Lösung des Arbeitslosenproblems, weißt du.«
»Das ist schön. Aber inzwischen hat Norm keine Arbeit, und ich glaube nicht, daß es noch lange darauf ankommen wird. Er ist in Verbindung mit den Springerleuten und wird springen. Während ich hier sitze, steigt er vielleicht schon in die Maschine.« Ihre Stimme war dünn und schrill geworden. Sie konnte hören, wie das Echo ihres Geschreis von den Wänden widerhallte. Es kam ihr vor, als wären ihre Nervenenden am ganzen Körper aus der Haut geplatzt und ragten heraus wie Stacheln. Quellens Haltung veränderte sich. Er schien eine bewußte Anstrengung zu unternehmen, sich zu fassen, beugte sich wohlwollend vor und zeigte ihr ein Lächeln. Helaine erwartete halb die Frage: ›Wollen wir jetzt versuchen, Ihrem Wahn auf den Grund zu kommen?‹ In Wirklichkeit sagte er überfreundlich und nachsichtig: »Vielleicht regst du dich ganz ohne Grund auf, Helaine. Wie kommst du darauf, er könnte mit den Springer-Verbrechern zu tun haben?«
Sie erzählte ihm von dem Lanoy-Streifen und von Norms übertriebener, gespielter Sorglosigkeit, als sie ihn nach Lanoy gefragt hatte. Sie zitierte die drei Worte auf dem Zettel und sah verblüfft, daß der strahlende Ausdruck vorgetäuschter Fürsorge auf dem Gesicht ihres Bruders einen Augenblick lang völliger Leere Platz machte, die tiefstes Entsetzen verriet. Quellen erholte sich sofort, hatte sich aber schon verraten. Helaine war sehr schnell darin, derart vorbeihuschende Offenbarungen des inneren Ichs zu erkennen.
»Du weißt von Lanoy?« sagte sie.
»Zufällig habe ich einen von diesen Zetteln gesehen, Helaine. Sie kursieren überall. Du gehst zu einer Schnellboot-Rampe, jemand kommt daher und drückt dir einen in die Hand. Ohne Zweifel hat Norm den seinen auch auf diese Art bekommen.«
»Und das ist Werbung für die Springerleute, nicht?«
»Ich habe keinen Anlaß, das zu vermuten«, sagte Quellen gedehnt, während seine Augen verrieten, daß er log.
»Aber nimmst du Lanoy unter die Lupe? Ich meine, wenn Grund zu dem Verdacht besteht —«
»Wir ermitteln, ja. Und ich wiederhole, Helaine: Es besteht kein zwingender Grund, anzunehmen, dieser Lanoy stehe in irgendeiner Beziehung zum Springerproblem.«