»Aber Beth Wisnack sagte, ihr Mann Bud hätte in der Woche, bevor er gegangen sei, dauernd von Lanoy gesprochen.«
»Wer?«
»Wisnack. Einer, der kürzlich gesprungen ist. Als ich sie nach Lanoy fragte, erklärte mir Beth rundheraus, er sei für Buds Verschwinden verantwortlich, und es sei sicher, daß Norm es ihm nachmachen würde.« Erregt schlug Helaine die Beine anders herum übereinander.
Das dumpfe Hirn des Sessels registrierte ihre Unruhe und begann nach einer Pause von einigen Minuten wieder an ihr herumzutasten.
»Wir können die Frage, ob Norm Springer werden will, leicht klären.« Er drehte sich herum und griff nach einer Spule. »Ich habe hier die vollständige Liste aller nachgewiesenen Springer, die registriert wurden, als sie in der Vergangenheit auftauchten. Die Liste ist vor kurzem für mich zusammengestellt worden, und ich habe sie natürlich noch nicht durchgearbeitet, weil sie Hunderttausende von Namen enthält. Aber wenn Norm gesprungen ist, finden wir ihn hier.« Er ließ die Spule ablaufen und begann zu suchen. Nebenbei erklärte er murmelnd, daß sie alphabetisch geordnet sei. Helaine saß starr dabei, als die Suche im Tempo von mehreren Tausend Bits in der Sekunde voranging. Es würde nicht lange dauern, bis Quellen bei ›P‹ angelangt war. Und dann —
Wenn Norm gegangen war, würde er hier festgehalten sein. Sein Schicksal würde für sie deutlich sichtbar werden — das seine und das ihre, eingetragen in dieses Grundregister aus Thermoplastband. Sie würde erfahren, daß ihre Ehe zum Untergang verurteilt gewesen war, dreihundert Jahre, bevor man sie geschlossen hatte. Sie würde sehen, daß der Name ihres Mannes vor Jahrhunderten in eine Liste von Flüchtlingen aus diesem Jahrhundert eingetragen worden war. Warum hatte man diese Liste nicht schon längst veröffentlicht? Deshalb, weil, wie sie wußte, sie wie eine Totenhand auf der Seele derjenigen gelegen hätte, die gesprungen waren, springen würden, springen mußten. Wie mußte das sein, unter dem drohenden Schatten des Wissens aufzuwachsen, daß man dazu bestimmt war, aus der eigenen Zeit fortzugehen?
»Siehst du?« sagte Quellen triumphierend. »Er steht nicht auf der Liste.«
»Heißt das, daß er nicht gesprungen ist?«
»Das würde ich sagen.«
»Aber wie kannst du sicher sein, daß wirklich alle Springer erfaßt sind?« fragte Helaine scharf. »Was ist, wenn viele unbemerkt geblieben sind?«
»Möglich ist es.«
»Und die Namen«, fuhr sie fort. »Wenn Norm einen anderen Namen angegeben hat, als er in die Vergangenheit kam, würde er auch nicht auf deiner Liste stehen. Richtig?«
Quellen sah sie düster an.
»Die Möglichkeit, daß er ein Pseudonym gewählt hat, besteht immer«, gab er zu.
»Du weichst aus, Joe. Du kannst keine Gewißheit haben, daß er nicht gesprungen ist. Selbst mit der Liste nicht.«
»Was soll ich denn tun, Helaine?«
Sie atmete tief ein.
»Du könntest Lanoy festnehmen lassen, bevor er Norm in der Zeit zurückschickt.«
»Ich muß Lanoy erst finden«, wandte Quellen ein. »Und dann brauche ich Beweise dafür, daß er wirklich beteiligt ist. Bis jetzt gibt es nicht einmal Indizien, sondern nur voreilige Schlußfolgerungen von dir.«
»Dann nimm Norm fest.«
»Was?«
»Weise ihm irgend etwas nach und sperr ihn ein. Verordne ihm ein, zwei Jahre Korrektivbehandlung. Dann ist er aus dem Verkehr gezogen, bis die Springerkrise vorüber ist. Nenn es Schutzhaft.«
»Helaine, ich kann das Gesetz nicht als Privatspielzeug für meine Familienangehörigen benutzen.«
»Er ist mein Mann, Joe. Ich will ihn behalten. Wenn er in der Zeit zurückgeht, habe ich ihn für immer verloren.« Helaine stand auf. Sie schwankte und mußte sich an der Schreibtischkante festhalten. Wie konnte sie ihm begreiflich machen, daß sie am Rand eines Abgrunds stand? Springen war im Endeffekt dasselbe wie Sterben. Sie kämpfte darum, ihren Mann zu behalten. Und hier saß ihr Bruder im Mantel der Rechtschaffenheit und unternahm nichts, während kostbare Sekunden verrannen.
»Ich werde tun, was ich kann«, versprach Quellen. »Ich befasse mich mit Lanoy. Wenn du Norm hierherschicken willst, rede ich mit ihm und versuche herauszufinden, was ihn bewegt. Ja. Das ist vielleicht am besten. Bring ihn dazu, daß er mich besucht.«
»Wenn er vorhat, zu springen, wird er dir das kaum erzählen«, sagte Helaine. »Er wird sich hüten, näher als fünf Meilen an dieses Haus heranzukommen.«
»Warum sagst du ihm nicht, ich möchte wegen einer Arbeitsmöglichkeit mit ihm sprechen? Er hat sich darüber beklagt, daß ich nichts für ihn unternehme, nicht? Also gut. Er wird zu mir kommen in der Meinung, ich hätte eine Stelle für ihn. Und ich forsche ihn wegen des Zeitsprungs aus. Unauffällig. Wenn er etwas weiß, erfahre ich das von ihm. Wir zerschlagen den Springerring, und es besteht keine Gefahr mehr, daß Norm verschwindet. Was meinst du, Helaine?«
»Das klingt immerhin ermutigend. Ich rede mit ihm. Ich schicke ihn zu dir, falls er nicht schon verschwunden ist.«
Sie ging zur Tür. Ihr Bruder lächelte noch einmal. Helaine verzog den Mund. Sie fürchtete, Norm könnte schon unwiederbringlich verschwunden sein, während sie hier saß und redete. Sie mußte so schnell wie möglich zu ihm zurück. Bis diese Krise überstanden war, mußte sie scharf aufpassen, soviel stand fest.
»Grüß Judith von mir«, sagte Helaine und ging hinaus.
8
Quellen war über das Gespräch mit seiner Schwester nicht erbaut gewesen. Bei ihr kam er sich immer gemartert vor. Sie war so sichtbar unglücklich, daß es ihn quälte, sie überhaupt zu sehen. Sie sah jetzt fünf oder sechs Jahre älter aus als er. Er erinnerte sich an Helaine mit Dreizehn, als sie unberührt und strahlend gewesen war, naiv genug, zu glauben, das Leben halte etwas Wunderbares für sie bereit. Und jetzt war sie fast schon Vierzig, eingesperrt in vier Wände, und krallte sich wie ein Dämon fest, um ihren mürrischen, verbitterten Mann zu behalten, nur deshalb, weil er praktisch alles war, was sie noch hatte.
Immerhin hatte sie Quellen nützliche Informationen gebracht. Lanoy war Quellen nicht mehr aus dem Kopf gegangen, seitdem der bleiche Unbekannte ihm den zusammengefalteten Minizettel auf der Flugrampe in die Hand gedrückt hatte. Am nächsten Tag war auf Quellens Veranlassung eine Routineüberprüfung erfolgt, ohne greifbares Ergebnis. Ein Nachname allein war für den Computer nutzlos. Es gab auf der Welt Tausende von Lanoys. Quellen konnte kaum jeden einzelnen davon auf mögliche kriminelle Handlungen überprüfen lassen. Ein Zufallsgriff hatte nichts erbracht. Aber nun kam Helaine mit ihrer intuitiven Überzeugung daher, daß Lanoy hinter dem Springerproblem stecke. Und die Frau, die sie erwähnt hatte, Beth Wisnack — Quellen machte sich eine Notiz, einen Mann hinzuschicken, der mit ihr reden sollte. Ohne Zweifel war Beth Wisnack zum Verschwinden ihres Mannes schon befragt worden, aber diesmal würde man von den Informationen über Lanoy ausgehen müssen.
Quellen erwog die Möglichkeit, Norm Pomrath unter Bewachung stellen zu lassen, damit ein ungelegenes Verschwinden verhindert wurde. Er war aber unzweideutig angewiesen worden, Donald Mortensen in Ruhe zu lassen und sich bei keinem der registrierten Springer einzumischen. Koll hatte die Entscheidung von Giacomin erfahren, der sie aus Kloofmans Mund selbst hatte: Hände weg von Mortensen!
Sie hatten Angst davor, die Vergangenheit zu verändern. Quellen konnte ihre Angst spüren; sie ging hinauf bis in die Hohe Regierung. Es lag in seiner Macht, das Fundament des Universums zu untergraben. Er brauchte, zum Beispiel, nur Donald Mortensen zum Verhör bringen lassen und einen Laserstrahl durch seinen Schädel zu jagen.
»Tut mir sehr leid. Widersetzte sich der Festnahme und mußte getötet werden.«
Ja. Dann würde Donald Mortensen am 4. Mai nicht in die Vergangenheit zurückkehren. Und das mußte das gesamte Gefüge der letzten Jahrhunderte erschüttern. Sofort, wenn ich Mortensen erschieße, dachte Quellen, wird sich alles verschieben, und es wird herauskommen, daß wir A.D. 2257 von einer Armee schleimiger Hundertfüßer aus den Magellan-Wolken besiegt worden sind — eine Eroberung, die einer der Nachkommen Donald Mortensens verhindert hätte. Wenn ich nicht so gedankenlos gewesen wäre, ihn niederzuschießen.