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Quellen hatte nicht die Absicht, den Zorn der Hohen Regierung auf sich herabzuziehen, indem er gegen das Verschwinden von Donald Mortensen etwas unternahm. Aber Norm Pomrath stand nicht auf der Springerliste. Bezog sich Kloofmans Direktive dann auf ihn auch? Mußte Quellen auf jedes Handeln verzichten, das möglicherweise zur Zeitabreise irgendeiner Person führen mochte?

Das ergab keinen Sinn. Quellen erzielte deshalb Einigkeit mit sich selbst darüber, daß er, ohne sich zu gefährden, seinen Schwager überwachen und Maßnahmen ergreifen konnte, um Norm am Sprung zu hindern. Das würde Helaine glücklich machen. Es könnte aber auch zu einer endgültigen Lösung dieses überaus schwierigen Problems beitragen, dachte Quellen.

»Brogg soll kommen«, sagte er in sein Komm-Gerät.

Brogg befand sich, wie sich herausstellte, außer Haus bei Ermittlungen. Leeward, der zweite UnterSek, betrat Quellens Büro.

Der KrimSek sagte: »Ich habe möglicherweise eine Spur. Mein Schwager Norman Pomrath steht angeblich im Begriff, einen Verbindungsmann aufzusuchen, der ihm helfen wird, Springer zu werden. Ich bin nicht sicher, was daran wahr ist, möchte es aber überprüft haben. Statten Sie Pomrath mit einem Ohr aus und lassen Sie ihn rund um die Uhr überwachen. Wenn er auch nur eine Silbe zum Springen sagt, greifen wir zu.«

»Jawohl, Sir«, sagte Leeward phlegmatisch.

»Dann ist da dieser Lanoy. Hat sich etwas Neues ergeben?«

»Bis jetzt noch nicht, Sir.«

»Ich habe erfahren, daß Pomraths angeblicher Verbindungsmann Lanoy sein soll. Das ist also unser Schlüsselwort. Sorgen Sie dafür, daß die Monitoren sich melden, wenn Pomrath den Namen erwähnt. Ich will sofort geholt werden.«

Leeward ging, um das zu veranlassen. Damit hatte es mit Norm Pomraths Privatleben natürlich ein Ende. Von jetzt an bis zu dem Tage, an dem Quellen das Ohr zurückzog, konnte Pomrath seine Frau nicht umarmen, nicht seine Notdurft verrichten, sich nicht unter dem Arm kratzen oder nicht die Hohe Regierung beschimpfen, ohne daß irgendein allwissendes Monitorsystem das aufzeichnete. Bedauerlich. Quellen selbst war schon das Opfer eines Ohres gewesen und kannte das Qualvolle daran, weil auf diese Weise der hinterlistige Brogg von der illegalen Wohnung des KrimSek in Afrika erfahren hatte. Quellen bedauerte aber nicht wirklich, was er Pomrath antat. Das geschah für Helaine. Sie hatte sogar darum gebeten, Norm ins Gefängnis zu stecken, nicht? Das andere war für ihn viel weniger unbequem. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde er nicht einmal etwas davon erfahren. Und es mochte sein, daß er Quellen zum Kern des Springerunternehmens führte. Auf jeden Fall würde es für Pomrath außerordentlich schwer werden, das jetzige Jahrhundert zu verlassen, solange er überwacht wurde.

Quellen schob dieses Problem beiseite und befaßte sich mit anderen dringenden Angelegenheiten.

Die täglichen Berichte über Straftaten waren auf seinem Schreibtisch eingetroffen. So sehr er von den Springern besessen sein mochte, Quellen trug auch auf anderen Gebieten Verantwortung. Er mußte die Einzelheiten aller in seiner Zone Appalachias begangenen Verbrechen studieren und Empfehlungen für die Erledigung geben. Der neue Stapel war ungefähr so groß wie gestern — das Verbrechen war statistisch eine Konstante —, und Quellen wußte, daß die Abscheulichkeiten von heute nicht weniger einfallsreich sein würden als die von gestern.

Er blätterte in den Unterlagen.

Die Verbrechensliste entsetzte Quellen nicht mehr, und das war das Schlimmste an seiner Tätigkeit. Jahr für Jahr holte ihn ein schleichender Empfindungsverlust ein. Als er jung und neu bei diesem Spiel gewesen, ein Elfer, kaum flügge, und eben erst erfahren hatte, worum es ging, hatte ihn das Ausmaß betäubt, in dem der Mensch fähig war, dem Menschen Übles anzutun. Jetzt war das alles Statistik und Schlüsselzahl, mit der Wirklichkeit nicht verwandt.

Die Verbrechen waren meistens unmotiviert. Die gütige Hohe Regierung hatte einen Großteil der archaischen Gründe für Verbrechen wie Hunger, Not und physischen Frust beseitigt. Jeder erhielt einen Lohnscheck, ob er arbeitete oder nicht, und Essen gab es genug für alle, von hohem Nährwert, wenn auch nicht sonderlich wohlschmeckend. Niemand wurde zum Raub getrieben, weil er eine hungernde Familie ernähren mußte. Die meisten suchterregenden Drogen waren leicht erhältlich. Sex in allen Abarten gab es billig in staatlich überwachten Zellen. Diese Maßnahmen seien Anzeichen der Reife, hieß es. Dadurch, daß sie die meisten Dinge legalisierte, hatte die Hohe Regierung das Bedürfnis beseitigt, Ungesetzlichkeiten zu begehen.

Wahr. Die Motive für Verbrechen waren zum größten Teil untergegangen. Das Verbrechen aber blieb. Quellen hatte Beweise genug für diese traurig stimmende soziologische Tatsache erhalten. Diebstahl, Mord, Notzucht — das war jetzt Belustigung, keine Frage der Bedürfnisse mehr. Der Mittelstand war durchwirkt von Kriminalität. Achtbare Bürger der Stufe Sechs begingen die grauenhaftesten Taten. Dicke Damen aus Fünfer-Haushalten überfielen Unbekannte in dunklen Gassen. Kinder mit frischen Gesichtern beteiligten sich an Scheußlichkeiten. Sogar die Bewahrer von Recht und Ordnung widersetzten sich, wie Quellen wußte, der Autorität, indem sie Ungesetzliches taten, etwa in angeblich für Zweier reservierten Gebieten Zweitwohnungen beschafften. Aber Quellens eigenes Verbrechen schadete wenigstens nicht direkt anderen menschlichen Wesen. Während —

Hier der Bericht über einen Hydroponiker Stufe Acht, der eines biologischen Verbrechens beschuldigt wurde: widerrechtliche Einführung lebenden Gewebes in den Körper eines anderen Menschen. Es wurde behauptet, er hätte einen Technikerkollegen betäubt, mit einer Ultraschallsonde seinen Körper geöffnet und eine tödliche Dosis eines neuentwickelten asiatischen fleischfressenden Erregers eingeführt, die das Kreislaufsystem des Opfers verzehrte, die eine Arterie hinauf, die nächste Vene hinunter, wie eine Flamme durch die Gefäße schießend. Warum? »Um seine Reaktion zu erleben«, lautete die Erklärung, »Es war sehr lehrreich.«

Und hier ein Dozent Stufe Sechs für höhere Hermeneutik an einer großen Universität Appalachias, der eine junge Studentin in seine luxuriöse Zweizimmerwohnung eingeladen und ihr nach ihrer Weigerung, sich auf sexuelle Beziehungen einzulassen, einen Kurzschluß der Schmerzzentren zugefügt hatte. Anschließend hatte er sie vergewaltigt und ohne jede Sinnesempfindung auf die Straße gejagt. Warum? »Eine Frage des männlichen Stolzes«, erklärte er dem Beamten, der ihn festnahm. ›Der lateinamerikanische Begriff des Machismo —‹

Er hatte seinen Stolz. Aber das Mädchen würde nie mehr etwas empfinden. Weder Schmerz noch Lust, wenn der Schaden nicht durch einen chirurgischen Eingriff behoben werden konnte.

Und hier der unerfreuliche Bericht über eine Versammlung von Gläubigen des Kults gemeinsamen Erbrechens, die nicht zu mystischen Erlebnissen, sondern zu einer Tragödie geführt hatte. Einer der Gläubigen hatte, getrieben von unergründlichen Motiven der Grausamkeit, heimlich drei Kristalle pseudolebendiges Glas in seinen Mageninhalt getan, bevor er ihn seinen Genossen überließ. Das Glas, in zusagender Umgebung zur Ausdehnung veranlaßt, hatte die inneren Organe der Opfer auf tödliche Weise durchbohrt. »Das war ein schrecklicher Irrtum«, erklärte der Täter. »Ich hatte die Absicht, selbst einen von den Kristallen zu schlucken und mit den anderen Qual und Erlösung zu teilen. Bedauerlicherweise —«

Der Bericht rührte in Quellen eine Saite des Entsetzens an. Die meisten dieser täglichen Alptraumberichte ließen ihn kalt, aber zufällig war Judith Mitglied eben dieses Kults, und an Judith dachte er seit Helaines Besuch immer wieder. Quellen hatte Judith seit seiner letzten Rückkehr aus Afrika nicht gesehen, nicht einmal von ihr gehört. Es mochte sehr wohl Judith gewesen sein, die diese teuflischen Kristalle von pseudolebendem Glas geschluckt hatte. Es könnte sogar ich gewesen sein, dachte Quellen angeekelt. Ich sollte Judith bald anrufen. Ich habe sie nicht beachtet.