Выбрать главу

Brogg hatte dem Fall von Prinzessin Karabu folgende Überlegungen angefügt:

›Manchen Kennern zufolge handelte es sich hier um einen mehrfachen Betrug. Ein Mädchen tauchte auf geheimnisvolle Weise auf. Ein Mann meldete sich und behauptete, ihre Sprache zu verstehen. Eine ältere Frau erklärte, das sei alles Schwindel. Aber die Dokumente sind lückenhaft. Was, wenn das Mädchen eine Besucherin aus der Zukunft war und der »Gentleman aus Ostindien« ein anderer Springer, der sie geschickt als javanische Prinzessin auszugeben versuchte, um zu verhindern, daß ihre wahre Herkunft offenbar wurde? Was, wenn die angebliche Mutter eine weitere Springerin war, die eingriff, um das Mädchen zu schützen, als es den Anschein hatte, der Schwindel mit Java könnte auffliegen? Wie viele Zeitreisende haben 1817 nun wirklich in England gelebt?‹

Quellen hatte den Eindruck, daß Brogg zu leichtgläubig war. Er ging weiter zum nächsten Beispiel.

Cagliostro: Tauchte in London, dann in Paris auf, sprach mit einem Akzent, dessen Herkunft nicht zu klären war. Übernatürliche Kräfte. Aggressiv, begabt, unkonventionell. Beschuldigt, in Wahrheit ein Joseph Balsamo zu sein, ein sizilianischer Verbrecher. Dieses nie bewiesen. Verdiente im Europa des 18. Jahrhunderts viel Geld mit alchimistischem Pulver, Liebestränken, Jugendelixieren und anderem nützlichen Gebräu. Wurde unvorsichtig, kam 1785 in die Bastille, entfloh, besuchte andere Länder, wurde wieder verhaftet, starb 1795 im Kerker. Betrüger? Schwindler? Zeitreisender? Durchaus möglich. Alles war möglich, dachte Quellen betrübt, sobald man anfing, an solche Dinge zu glauben.

Kaspar Hauser: Wankte an einem Mainachmittag 1828 in die Stadt Nürnberg. Offenbar sechzehn oder siebzehn Jahre alt. (Ein bißchen jung für einen Zeitspringer, dachte Quellen. Vielleicht hatte das Äußere getäuscht.) Konnte auf Deutsch nur zwei Sätze sprechen. Als man ihm Bleistift und Papier gab, schrieb er einen Namen: Kaspar Hauser. Man nahm an, das sei sein eigener Name. Er kannte die alltäglichsten Dinge und Vorkommnisse nicht. Ohne Zweifel aus einer Zeitverwerfung gestürzt.

Aber einer, der rasch lernte. Eine Zeit als Landstreicher im Gefängnis festgehalten, dann einem Lehrer übergeben, Professor Daumer. Meisterte Deutsch und schrieb eine autobiographische Abhandlung, worin er mitteilte, er habe sein ganzes Leben in einer kleinen, dunklen Zelle verbracht und von Wasser und Brot gelebt. Ein Polizist, der ihn gefunden hatte, erklärte jedoch: »Er hatte eine sehr gesunde Gesichtsfarbe. Er wirkte nicht blaß oder geschwächt wie jemand, der einige Zeit eingesperrt war.«

Viele Widersprüche. Allgemeine Faszination in Europa; jedermann stellte Spekulationen über die rätselhafte Herkunft Kaspar Hausers an. Manche meinten, er sei der Kronprinz von Baden, 1812 von den Beauftragten der seinem angeblichen Vater, dem Großherzog, zur linken Hand angetrauten Frau entführt. Später widerlegt. Andere erklärten, er sei ein Schlafwandler und habe das Gedächtnis verloren. 17. Oktober 1829: Kaspar Hauser aufgefunden mit einer Wunde an der Stirn, angeblich zugefügt von einem Mann mit schwarzer Maske. Polizisten abgestellt, die ihn bewachen sollten. Mehrere weitere angebliche Attentate. 14. Dezember 1833: Kaspar Hauser sterbend in einem Park gefunden, eine tiefe Stichwunde in der linken Brust. Behauptete, ein Unbekannter hätte ihm die Wunde zugefügt. Keine Spur von der Waffe im Park, keine Fußabdrücke außer Hausers eigenen in der Umgebung. Vermutung, daß er sich die Wunde selbst beigebracht hatte. Einige Tage danach gestorben mit dem Ruf: »Mein Gott, daß ich so in Schande und Ehrlosigkeit sterben muß!«

Quellen schaltete ab. Schweine, Hunde, die Prinzessin Karabu, Kaspar Hauser — alles ganz unterhaltsam. Es mochte sogar einen Glauben stützen, die ganze Menschheitsgeschichte sei gesprenkelt von Zeitreisenden, nicht nur die Zeit zwischen 1979 und 2106. Schön. Aber solche Fakten trugen wenig dazu bei, Quellens augenblickliche Probleme zu lösen, so sehr das Sammeln auch Broggs Geschmack an Gelehrsamkeit entgegengekommen sein mochte. Quellen legte die Spule weg.

Er wählte Judiths Nummer. Ihr Gesicht erschien auf dem Bildschirm, bleich, düster, streng. Zur Schönheit fehlte ihr ziemlich viel. Ihr Nasenrücken war zu hoch, ihre Stirn zu gewölbt, ihre Lippen waren dünn, ihr Kinn lang. Ihre Augen standen beunruhigend weit auseinander, das rechte ein wenig höher als das linke. Trotzdem war sie nicht reizlos. Quellen hatte mit der Verlockung gespielt, zuzulassen, daß er sich in sie verliebte. Aber das war mißlich; er durfte sie nicht zu nah an sich heranlassen, ohne ihr von der Wohnung in Afrika zu erzählen, und er wollte nicht, daß sie das erfuhr. Sie hatte einen Zug von Pharisäertum; sie mochte ihn verraten.

»Hast du dich vor mir versteckt, Joe?« fragte sie.

»Ich hatte viel zu tun. Ertrinke in Arbeit. Entschuldige, Judith.«

»Laß dich von deinem Schuldbewußtsein nicht aus der Ruhe bringen. Ich bin ganz gut ausgekommen.«

»Davon bin ich überzeugt. Was macht dein Freudel?«

»Doktor Galuber? Es geht ihm gut. Er möchte dich gern kennenlernen.«

Quellen reagierte störrisch.

»Ich habe nicht die Absicht, mich in Therapie zu begeben, Judith. Tut mir leid.«

»Das ist innerhalb von drei Sätzen schon das zweitemal, daß du dich entschuldigst.«

»Tut mir l —« begann Quellen, und sie lachten beide.

»Ich meinte, du sollst Doktor Galuber privat kennenlernen«, erklärte Judith. »Er wird bei unserer nächsten Kommunion dabeisein.«

»Wann?«

»Heute abend schon. Kommst du?«

»Du weißt, daß Gemeinschaftsbrechen mir nie sonderlich gefallen hat, Judith.«

Sie lächelte kühl.

»Das weiß ich. Aber es wird Zeit, daß du ein bißchen unter die Leute kommst. Du vergräbst dich zu sehr, Joe. Wenn du Junggeselle bleiben willst, ist das deine Sache, aber Einsiedler brauchst du nicht auch noch zu werden.«

»Ich kann eine Münze in den Schlitz einer Freudelmaschine stecken und einen Rat bekommen, der genauso tiefgründig ist.«

»Mag sein. Kommst du nun zur Kommunion?«

Quellen dachte an den Fall, den er erst vor ungefähr einer Stunde zur Kenntnis genommen hatte, von dem ernsthaften Kommunikanten, der pseudolebendes Glas in die Verdauungskanäle seiner Mitgläubigen praktiziert und zugesehen hatte, wie sie qualvoll gestorben waren. Er stellte sich vor, wie er sich in Qualen wand, während eine weinende Judith sich an ihn klammerte und in der Art ihrer Sekte das letzte Quentchen Leid aus seiner Todesqual zu ziehen suchte.

Er seufzte. Sie hatte recht. Er lebte in der letzten Zeit wirklich viel zu zurückgezogen. Er mußte hinaus, weg von seinen Amtspflichten.

»Ja«, sagte er. »Ja, Judith, ich komme zur Kommunion. Freust du dich?«

9

Stanley Brogg hatte einen anstrengenden Tag hinter sich.

Der UnterSek jonglierte mit einer ganzen Anzahl von Kartoffeln, die er für Quellen aus dem Feuer geholt hatte, gleichzeitig. Insgeheim war er der Meinung, daß er und Spanner das ganze Amt in Gang hielten. Sie waren vom gleichen Schlag, beide breitgebaut, massiv und methodisch, mit einer Reserve an Gewicht, um in Krisenzeiten zusätzliche Energie zur Verfügung zu haben. Natürlich war Spanner hoher Verwaltungsmann und Brogg ein kleiner Außendienstler. Spanner war Stufe Sechs, Brogg Stufe Neun. Trotzdem sah Brogg sich als Spanners Waffengefährten.

Die beiden anderen, Koll und Quellen — sie waren überflüssige Auswüchse. Koll war voller Haß und Bösartigkeit, vor Wut kochend nur deshalb, weil er klein und häßlich war. Er besaß zwar Fähigkeiten, aber seine im Grunde neurotische Haltung machte ihn gefährlich und nutzlos. Wenn es je einen Fall zwanghaften Freudelns gegeben hatte, dann war es Koll. Brogg verglich ihn oft mit Tiberius Cäsar: ein finsterer Mann voll Bedrohlichkeit, nicht wahnsinnig, aber stark aus dem Gleichgewicht. Man mied ihn besser.