Wenn Koll Kaiser Tiberius war, dann Quellen Claudius; freundlich, intelligent, schwach bis ins Innere. Brogg verabscheute seinen unmittelbaren Vorgesetzten. Quellen erschien ihm als tatterig, ungeeignet für seinen Posten. Ab und zu konnte Quellen kraftvoll und entschlossen handeln, aber Natur war ihm das nicht. Brogg arbeitete Quellen schon seit Jahren zu, sonst wäre das Amt längst zusammengebrochen.
Aber ein Punkt an Quellen war erstaunlich: Er war zu kriminellen Handlungen fähig. Das hatte Brogg verblüfft. Er hatte nicht geglaubt, Quellen sei dazu imstande. Durch geschickte Fälschung von Unterlagen ein Grundstück in Afrika zu erwerben, ungesetzliche Statbeförderung von einer Wohnung Stufe Sieben zum Kongo zu beantragen und genehmigt zu erhalten, ein geheimes Leben des Müßiggangs und sogar des Luxus’ zu führen — nun, das war eine derart kühne Leistung, daß Brogg immer noch nicht begreifen konnte, wie Quellen das gelungen war. Es sei denn, die Erklärung bestand darin, daß Quellen von der Härte des Lebens ringsum so abgestoßen war, daß er bereit war, jedes Risiko einzugehen, um ihm zu entfliehen. Selbst ein Feigling konnte im Interesse seiner eigenen Freiheit zu einer Haltung emporwachsen, die moralische Größe zu sein schien. Ebenso konnte ein verweichlichter, erschlaffter Mensch wie Kaiser Nero sich in einen Dämon verwandeln, nur um seine eigene Schlaffheit zu bewahren. Nero war nach Broggs Ansicht nicht von Haus aus so dämonenhaft gewesen wie Caligula; er war unauffällig ins Ungeheuerliche abgeglitten. In gewisser Weise widersprach das seinem Charakter, so wie Quellens überraschende Kühnheit dem Bild des Mannes widersprach, das Brogg sich gebildet hatte.
Brogg hatte Quellens großes Geheimnis rein durch Zufall entdeckt, auch wenn ein gewisses Maß an Hinterlist beteiligt gewesen war. Er hatte schon seit geraumer Zeit geargwöhnt, daß Quellen etwas Verdächtiges im Sinn hatte, ohne aber zu ahnen, was das sei. Vielleicht abweichlerische religiöse Betätigung; möglicherweise gehörte Quellen einer der verbotenen Sekten an, einer Chaosgruppe zum Beispiel, oder einer der Banden, von denen gesprochen wurde, Leute, die sich in dunklen Winkeln versammelten, um zu Flammen-Bess, der bösartigen Brandstifterin und Attentäterin, zu beten.
Da Brogg die Einzelheiten nicht kannte, aber die abwehrende Wachsamkeit in Quellens Verhalten spürte, versuchte er die Dinge für sich zum finanziellen Vorteil zu gestalten. Er hatte hohe Unkosten. Brogg war ein Mann, den es zum Gelehrtentum drängte; vertieft in das Studium der alten Römer, hatte er sich umgeben mit Büchern, echten römischen Münzen, historischem Kleinkram. Es kostete Geld, Echtes zu kaufen. Brogg kam deshalb mit seinem Gehalt kaum aus. Er war so auf den Gedanken gekommen, Quellen könne ein fruchtbares Opfer für Erpressungen sein.
Zuerst hatte Brogg mit Quellens damaligem Zimmergenossen, Bruce Marok, gesprochen — Quellen war damals noch nicht auf Stufe Sieben befördert gewesen und hatte, wie jeder unverheiratete Mann seiner Stufe, seine Wohnung mit einem anderen teilen müssen. Marok bestätigte zwar, daß etwas Sonderbares im Gange sei, lieferte aber keine Einzelheiten. Er schien nicht viel zu wissen. Dann kam Quellens Beförderung, und Marok war von der Bildfläche verschwunden.
Brogg pflanzte bei seinem Chef ein Ohr und lauschte.
Die Wahrheit ergab sich rasch. Quellen war es gelungen, unter einem Blindnamen, den er vertrat, ein Stück Afrika registrieren zu lassen. Ein Großteil Afrikas war als Privatreservat für Angehörige der Hohen Regierung vorgesehen — vor allem der tropische Teil, der während des Sporenkrieges vor eineinhalb Jahrhunderten praktisch entvölkert worden war. Quellen hatte seinen Anteil. Er hatte veranlaßt, daß dort ein Haus gebaut wurde, und unerlaubte Statbeförderung erreicht, so daß er im Nu über den Atlantik hin- und herhuschen konnte. Quellens kleine Intrige würde natürlich irgendwann von einem der Neuvermessungstrupps entdeckt werden. Aber dieser Teil der Welt stand erst in mehr als fünf zig Jahren zur Neuvermessung an, bis dahin hatte also Quellen wenig zu befürchten.
Brogg verbrachte fasziniert eine ganze Woche damit, Quellens Hin und Her zu verfolgen. Er hatte zuerst vermutet, Quellen nehme Frauen mit in sein Versteck, zur Teilnahme an ungesetzlichen Sektenhandlungen, aber nein, Quellen ging allein. Er suchte einfach Frieden und Einsamkeit. In gewisser Beziehung konnte Brogg Quellen dieses Bedürfnis nachfühlen. Brogg hatte aber eigene Bedürfnisse und war kein sentimentaler Mensch. Er ging zu Quellen.
»Wenn Sie wieder nach Afrika staten«, sagte er beiläufig, »dann denken Sie an mich. Ich beneide Sie, KrimSek.«
Quellen stockte vor Entsetzen der Atem. Dann erholte er sich.
»Afrika? Wovon reden Sie, Brogg? Weshalb sollte ich nach Afrika gehen?«
»Um allem zu entkommen. Ja?«
»Ich bestreite alle Ihre Anwürfe.«
»Ich habe Beweise«, sagte Brogg. »Wollen Sie hören?«
Schließlich waren sie einig geworden. Gegen eine großzügige Barsumme sollte Brogg schweigen. Das war mehrere Monate her, und Quellen hatte regelmäßig gezahlt. Solange er das tat, hielt Brogg die Abmachung ein. Er hatte im Grunde kein Interesse daran, Quellen zu verraten, der ihm als Geldquelle viel nützlicher war als in einer Anstalt für korrektive Rehabilitation. Brogg, der seinen Studien mit Quellens Schweigegeld leichter nachgehen konnte, hoffte sehr, daß kein anderer das Geheimnis des KrimSek lüften würde. Das hätte den Verlust seines Nebeneinkommens bedeutet und ihn als Mitwisser vielleicht sogar ins Gefängnis gebracht. Deshalb bewachte Brogg Quellen wie ein Schutzengel und schützte ihn vor den forschenden Augen anderer.
Brogg wußte natürlich, daß Quellen ihn fürchtete und haßte. Das störte ihn aber nicht. An verschiedenen Stellen ringsum waren auf Band gesprochene Berichte über Quellens Frevelhaftigkeit deponiert, darauf programmiert, sich bei einem eventuellen plötzlichen Ableben oder Verschwinden Broggs an die Hohe Regierung zu wenden. Quellen wußte das. Er war sich völlig im klaren darüber, daß in dem Augenblick, in dem die Sensoren dieser teuflischen kleinen Kästchen die Alphawellen von Stanley Brogg nicht mehr wahrnahmen, selbständig Beine herauskommen und die Geräte zur Zentrale marschieren würden, um ihre Beschuldigungen vorzutragen. Quellen und Brogg befanden sich deshalb in einem Patt, das beiden entgegenkam.
Keiner von ihnen sprach darüber. Im Amt ging die Arbeit ruhig weiter, auch wenn Brogg sich gelegentlich eine verschleierte Anspielung gestattete, um Quellen unter Druck zu halten. Im allgemeinen nahm Brogg Anweisungen entgegen und führte sie aus.
Wie beispielsweise bei dieser Springersache.
Er hatte die letzten Tage damit verbracht, Donald Mortensen nachzuspüren, dem potentiellen Springer, der am 4. Mai verschwinden sollte. Quellen hatte Brogg aufgefordert, den Fall Mortensen mit größter Zurückhaltung zu bearbeiten. Brogg wußte, warum. Er war klug genug, um die Zeitparadox-Folgen vorauszusehen, die sich ergeben mochten, wenn jemand die Abreise Mortensens verhinderte, der auf der Liste nachgewiesener Springer stand. Brogg war die alten Listen persönlich durchgegangen, um die Spule zusammenzustellen, die er Beweisstück A taufte. Nahm man einen Mann aus den alten Aufzeichnungen heraus, mochte die ganze Welt ins Schwanken geraten. Brogg wußte das. Ohne Zweifel wußte Quellen es auch. Ja, Kloofman und Danton würde ein Dutzend Aneurysmen in ihren alternden Arterien platzen, wenn sie dahinterkamen, daß Quellens Abteilung an der Struktur der Vergangenheit herummurkste. Dergleichen gefährdete jedermanns Status in der Gegenwart, und jene, die am meisten zu verlieren hatten — die auf Stufe Eins —, waren diejenigen, die sich am ärgsten aufregen würden, wenn sie von den Ermittlungen erfuhren.
Brogg war deshalb vorsichtig. Er war ziemlich sicher, daß die Hohe Regierung die Ermittlungen im Fall Mortensen sofort unterdrücken würde, sobald sie davon erfuhr. Inzwischen führte Brogg aber lediglich einen Auftrag aus. Er konnte Quellen ans Messer liefern, indem er pfuschte und Mortensen auf sich aufmerksam machte, aber Brogg hatte starke Motive, Quellen vor Schaden zu bewahren.