Es fiel ihm nicht schwer, Pomrath in der Menge zu finden. Brogg wußte ungefähr, wie der Mann aussah — untersetzt, dunkelhaarig, verkrampft —, und hatte ihn nach ganz kurzer Zeit vor sich. Brogg schob sich in die Menschenschlange, nicht weit von Pomrath entfernt, und beobachtete den unglücklichen Schwager des KrimSek einige Zeit. Pomrath sprach mit keinem Menschen. Er starrte auf die roten, grünen und blauen Datenspeicher wie auf persönliche Feinde. Seine Lippen waren gequält zusammengepreßt, seine Augen dunkel umschattet. Dieser Mann quälte sich, dachte Brogg. Kein Wunder, daß er Springer werden will. Nun, wir werden bald sehr viel über ihn wissen, nicht?
Brogg schob sich hinter Pomrath heran.
»Verzeihung«, sagte er und stolperte. Pomrath streckte die Hand aus, um ihn zu stützen. Brogg umklammerte Pomraths Handgelenk und drückte das Ohr fest in die behaarte Haut knapp über der Elle. Er richtete sich auf, dankte Pomrath für seine Hilfe, während das pseudolebendige Glas, in dem das Ohr lag, seine Reizbewegung entfaltete und sich in Pomraths Körper bohrte.
Bis zum Abend würde das Ohr in Pomraths Arm zu einer schönen, warmen Fettablagerung hinaufgelangt sein, wo es sich einrichten und seine Signale übermitteln konnte.
»Ungeschickt von mir«, murmelte Brogg. Er entfernte sich. Pomrath ließ nicht erkennen, daß er etwas bemerkt hatte.
Brogg kehrte ins Amt zurück und befaßte sich mit der Monitoranlage. Pomrath hatte jetzt das Kuppelgebäude verlassen, ergab sich. Die Peillinie auf dem Oszilloskop zeigte die winzigen Nervenexplosionen, die von Schritten herrührten. Pomrath ging zehn Minuten lang zu Fuß, dann blieb er stehen. Komplexe Muskelaktionen: Er betrat ein Gebäude mit handbedienter Tür. Dann wurden Stimmen übertragen.
POMRATH: Hier bin ich wieder, Jerry.
FREMDE STIMME: Wir haben schon eine Liege für Sie bereit.
POMRATH: Mit einer hübschen kleinen Halluzination, wie? Ich bekämpfe die Krebswesen, nicht, und da ist diese nackte Blondine, die gerettet sein will, während Kloofman darauf wartet, mir die Galaktische Ehrenmedaille zu überreichen.
STIMME: Was herauskommt, kann ich nicht für Sie aussuchen, Norm, das wissen Sie. Sie bezahlen und nehmen, was kommt. Entschieden wird das durch die Dinge, die in Ihrem Kopf rumoren.
POMRATH: In meinem Kopf rumort allerhand, mein Lieber. Wo ist die Maske? Ich träume ganz was Schönes. Norm Pomrath, der Weltenzerstörer. Zerreißt Zeit und Raum. Der Verschlinger von Kontinua.
STIMME: Fantasie haben Sie wirklich eine wilde, Norm.
Brogg wandte sich ab. Pomrath war offenkundig in einem Schnüffellokal. Auf dem Monitor würde jetzt nichts Sinnvolles erscheinen — nicht mehr, als daß Pomrath auf einer Liege schlief und seine Halluzination genoß oder auch nicht genoß.
In einem anderen Zimmer verhörte Leeward immer noch den unglücklichen Proleten Brand. Brand wirkte verstört. Brogg hörte eine Weile zu, konnte wenig Bedeutungsvolles erkennen und machte für diesen Tag Schluß. Quellen war schon nach Hause gegangen, stellte er fest. Vielleicht über den Abend nach Afrika.
Brogg erreichte kurze Zeit später seine Wohnung. Wie verlangt, hatte er einen Zimmergenossen — einen juristischen Mitarbeiter in einer der Justizabteilungen —, aber es war ihnen gelungen, sich so abzusprechen, daß sie einander selten begegneten. Man mußte sich den Lebensumständen anpassen, so gut es ging.
Müde stellte Brogg sich unter das Molekularbad und reinigte sich vom Schmutz des Tages. Er programmierte das Abendessen. Dann wählte er ein Buch aus. Er befaßte sich mit einem hochinteressanten Thema seines Lieblingssujets, der römischen Geschichte: wie Tiberius mit dem Aufstand von Sejanus fertiggeworden war. Das Wechselspiel der Figuren war unwiderstehlich: Sejanus, der verschlagene Favorit des listigen alten Kaisers, der endlich zu weit ging und durch Tiberius, den alten Bock, der auf Capri wohnte, gestürzt wurde.
Wie von selbst verfiel Brogg ins Sinnieren über diese fernen und gewaltsamen Ereignisse.
Wenn ich Sejanus gewesen wäre, dachte er, wie hätte ich es gemacht? Ohne Zweifel taktvoller. Ich hätte den Alten nie so herausgefordert. Brogg lächelte. Wenn er Sejanus gewesen wäre, hätte er schließlich den Thron selbst bestiegen, das wußte er. Andererseits —
Andererseits war er nicht Sejanus. Er war Stanley Brogg vom Sekretariat Verbrechen. Sehr schade, dachte Brogg. Aber man muß zurechtkommen mit dem, was man hat.
10
Die Nacht schloß sich wie wie eine geballte Faust. Quellen zog sich nach dem gemächlichen Duschen, das fast seine ganze Wochenration an Waschwasser erforderte, um. Er zog Kleidung an, die ein wenig bunt war, in plötzlicher Auflehnung gegen die Art von Abend, die Judith ihm zumuten würde. Die Leute, die zu diesen Kommunionen des Gemeinschaftserbrechens erschienen, neigten dazu, farblos zu sein, und das bewußt. Er verabscheute ihre puritanische Kargheit. Deshalb zog er eine mit schillernden Fäden durchwirkte Tunika an, die rot und violett und azurblau schimmerte, wenn er sich bewegte.
Er aß nicht zu Abend. Das wäre in Anbetracht der vorgesehenen Zeremonie ein unverzeihlicher Fauxpas gewesen. Immerhin mußte er nach den Belastungen des Tages seinen Blutzuckerspiegel erhöhen. Ein paar Tabletten genügten dafür. Erfrischt versiegelte Quellen seine Wohnung und ging. Er sollte Judith bei der Kommunion treffen. Danach würde er sie vielleicht nach Hause begleiten. Sie lebte allein, seitdem sie zu ihm auf Stufe Sieben gelangt war. Es wäre eine Tat guten Bürgertums gewesen, sie zu heiraten und die beiden Wohnungen zusammenzulegen, das wußte Quellen, aber er war noch nicht bereit, so patriotisch zu sein.
Die Sektenversammlung wurde, wie Judith ihm mitgeteilt hatte, in der Wohnung Stufe Vier eines gewissen Brose Cashdan abgehalten, eines Beamten im interkontinentalen Stat-Netz. Es war für Quellen interessant, daß ein Transportgewaltiger wie Cashdan sich auf eine solche Sekte einließ. Der Kult des Gemeinschaftserbrechens stand freilich nicht auf der Verbotsliste. Es mochte ästhetisch ekelhaft sein, aber nicht subversiv, wie so vieles andere. Trotzdem hatte Quellens Umgang mit hohen Beamten ihm beigebracht, daß sie dazu neigten, auf den Status quo zu achten. Vielleicht war Cashdan anders. Jedenfalls war Quellen neugierig auf das Haus. Er hatte nicht viele Wohnungen Stufe Vier gesehen.
Brose Cashdans Villa lag noch knapp in der Innenzone des Stat-Radius von Appalachia. Das hieß, daß Quellen sie nicht durch die sofortige Übermittlung durch Stat erreichen konnte, sondern ein Schnellboot nehmen mußte. Das war schade, weil er damit eine halbe Stunde vergeuden mußte. Er programmierte seinen Weg nach Norden. Der Bildschirm im Schnellboot zeigte eine simulierte Ansicht dessen, was unter ihnen lag: der Hudson, silbrig und geschlängelt im Mondlicht, dann die struppigen Berge des Adirondack-Waldschutzgebiets, über vierhundert Hektar unverdorbene Wildnis mitten in der weitläufigen Stadt, und schließlich das Flutlichtglitzern der Landerampe. Anschlußtransport brachte Quellen rasch zu Cashdans Haus. Er hatte sich ein wenig verspätet, aber das störte ihn nicht.
Es war eine großartige Villa. Auf solche Pracht hatte Quellen sich nicht eingestellt. Natürlich war Cashdan gehalten, nur an einem Ort zu leben, im Gegensatz zu den Zweiern, die mehrere Wohnungen in verschiedenen Teilen der Welt haben durften. Trotzdem, es war ein herrliches Haus, in erster Linie aus Glas mit Achsenpolen aus einem schwammigen, hart aussehenden Kunststoff bestehend. Es waren mindestens sechs Zimmer, ein kleiner Garten(!) und ein Landeplatz auf dem Dach. Selbst von der Luft aus wirkte das Ganze warm und einladend. Quellen trat ins Vestibül und suchte nach Judith.
Ein beleibter Mann über Sechzig in einer gestärkten weißen Tunika kam heraus, um ihn zu begrüßen. Diagonal an der Tunika prangte die goldene Schärpe der Macht.