»Ich störe dich ungern, Joe, aber es geht um Norm. Er ist zum Abendessen nicht heimgekommen, und ich mache mir Sorgen.«
Am anderen Ende blieb es lange still. Helaine beobachtete Quellens Gesicht, aber der Ausdruck verwunderte sie. Seine Lippen waren fest zusammengepreßt.
»Joe? Warum antwortest du nicht? Hör doch, ich weiß, ich bin dumm und mache mir ohne Anlaß Sorgen, aber ich kann mir nicht helfen. Ich habe das starke Gefühl, daß etwas Schreckliches geschehen ist.«
»Es tut mir leid, Helaine. Ich habe getan, was ich konnte.«
»Wovon redest du?«
»Es hat eine Festnahme gegeben. Wir haben den Kerl, der das Springerunternehmen betreibt. Aber es blieb einfach nicht genug Zeit, Norm zu erreichen. Er ist durchgeschlüpft.«
Sie spürte, wie die Kälte an den Beinen heraufkroch und in ihr Inneres drang, wie ihre Organe der Reihe nach zu vibrierenden Eisklumpen wurden.
»Joe, ich verstehe dich nicht. Weißt du etwas von Norm?«
»Wir haben ihn überwacht. Er machte sich heute früh auf die Suche nach Lanoy. Das ist der Kerl.«
»Den ihr verhaftet habt?«
»Ja. Lanoy betreibt das mit den Springern. Betrieb es. Er ist in Gewahrsam. Ich werde ihn morgen früh vernehmen. Norm ging zu ihm. Es war weit draußen — die Fahrt hat den ganzen Vormittag gedauert. Wir haben uns auf Lanoy eingepeilt, wohlgemerkt, aber es gab einfach keine Möglichkeit, rechtzeitig an Norm heranzukommen. Ich habe eine Bandaufzeichnung von der ganzen Sache, wie sie über das Ohr kam.«
»Er ist — fort?«
»Fort«, sagte Quellen. »Sein Ziel war 2050. Lanoy war nicht sicher, ob sie dieses Jahr genau treffen können, aber er sagte, die Aussichten dafür seien günstig. Ich möchte dir sagen, Helaine, daß Norm bis zum Absprung hin an dich gedacht hat. Du kannst dir die Bänder selbst anhören. Er sagte, er liebe dich und die Kinder. Er wollte es so einrichten, daß du und die Kinder ihm nach 2050 folgen könnt. Lanoy erklärte seine Bereitschaft dazu. Das ist alles aufgezeichnet.«
»Fort. Er ist einfach gesprungen.«
»Er war in sehr schlechter Verfassung, Helaine. Was er heute vormittag alles gesagt hat — er hatte praktisch den Verstand verloren.«
»Ich weiß. Er war schon seit Tagen so. Ich habe versucht, ihn zu einem Freudel zu bringen, aber —«
»Kann ich irgend etwas tun, Helaine? Soll ich hinüberkommen und bei dir bleiben?«
»Nein.«
»Ich kann jemanden von einem zugelassenen Trostdienst kommen lassen.«
»Nein.«
»Helaine, du mußt mir glauben. Ich habe alles getan, was in meiner Macht stand, um das zu verhindern. Und wenn du ihm den Sprung nachmachen willst, sorge ich dafür, daß du Gelegenheit dazu bekommst. Das heißt, wenn die Hohe Regierung weitere Sprünge zuläßt, jetzt, da wir Lanoy gefaßt haben.«
»Ich überlege es mir«, sagte Helaine leise. »Ich weiß noch nicht, was ich mache. Laß mich jetzt nur in Ruhe. Ich danke dir jedenfalls für alles, Joe.« Sie löschte den Schirm und unterbrach die Verbindung. Nun, da das Schlimmste geschehen war, fühlte Helaine sich sonderbar ruhig. Eisig ruhig. Sie würde nicht in die Vergangenheit gehen und ihren Mann suchen. Sie war die Witwe Pomrath, verraten, verlassen.
»Mami, wo ist Papi?« fragte Joseph.
»Er ist fortgegangen, mein Sohn.«
»Kommt er bald wieder?«
»Das glaube ich nicht«, sagte Helaine.
Marina hob den Kopf.
»Heißt das, Papi ist tot?«
»Nicht ganz«, sagte Helaine. »Es ist zu verwickelt. Ich erkläre es euch ein andermal. Schließt euch an und macht eure Hausaufgaben, Kinder. Es ist fast schon Schlafenszeit.«
Sie ging zu der Schublade, wo sie die Alkoholröhrchen aufbewahrte. Sie nahm hastig eines heraus, preßte die Düse an ihre Haut und schoß den Inhalt ins Fleisch. Sie fühlte sich weder belebter noch bedrückter. Sie war erstarrt, bei einem Gefühlspegel Null.
Die Witwe Pomrath. Beth Wisnack wird sich freuen, wenn sie es hört. Sie kann den Gedanken nicht ertragen, daß irgendeine andere Frau noch einen Mann hat.
Sie schloß die Augen und stellte sich vor, wie Norm im Jahr 2050 ankam, ein Fremder, ganz allein. Er würde sich zurechtfinden, das wußte sie. Er besaß seine Fähigkeiten als Mediziner. In dieser primitiven Vergangenheit abgesetzt, würde er sich als Arzt betätigen, vielleicht sogar verheimlichen, daß er Springer war — sonst hätte er in der Liste der registrierten Springer erscheinen müssen, nicht? Er würde reich und erfolgreich werden. Die Patienten würden ihm zuströmen, vor allem weibliche. Er würde den Ausdruck dumpfer Besiegtheit verlieren und das Leuchten des Erfolges annehmen. Er würde aufrechter gehen und öfter lächeln. Helaine fragte sich, was für eine Frau er heiraten würde. Geheiratet hatte. Alles war schon geschehen. Das war das Unheimliche daran. Norm hatte schon gelebt und war gestorben, dies um das Jahr 2100, und sein Leib war vor Jahrhunderten zu Staub zerfallen, zusammen mit den Leibern seiner zweiten Frau und den anderen Kindern. Vielleicht waren seine Nachkommen in der heutigen Welt eine große Schar. Vielleicht gehöre ich selbst dazu, dachte Helaine. Und das Buch war versiegelt; seine Bestimmung war Jahrhunderte vor ihrem Hochzeitstag niedergelegt worden. Schon damals hatte festgestanden, daß er sie verlassen und in die Vergangenheit zurückkehren würde, um Hunderte von Jahren vor seiner Geburt zu sterben.
Um Helaine drehte sich alles. Sie nahm ein zweites Röhrchen. Es half, aber nicht viel. Die Kinder saßen mit dem Rücken zu ihr, angeschlossen an ihre Hausaufgaben-Maschine, und gaben eifrig vor, zu lernen.
Ich bin verloren, dachte sie.
Ich bin nichts.
Ich bin die Witwe Pomrath.
Beim dritten Röhrchen kam ihr ein neuer Gedanke. Ich bin noch ziemlich jung. Wenn ich mich ein paar Monate erholen könnte, wäre ich vielleicht sogar wieder reizvoll. Joe kann sich darum kümmern; es muß eine eigene Staatsrente für die verlassenen Ehefrauen von Springern geben. Ich gehe fort, nehme zu, bekomme ein bißchen Fleisch auf die Knochen. Dann heirate ich wieder. Meine Fortpflanzungsquote habe ich natürlich ausgeschöpft, aber das macht nichts. Ich kann einen Mann finden, der bereit ist, auf Vaterschaft zu verzichten. Er wird Joseph und Manna adoptieren. Ein hochgewachsener, gutaussehender Mann, von höherem Rang. Kann ich einen von Stufe Sechs einfangen?
Einen Witwer, vielleicht sogar einen Mann, dessen Frau Springerin geworden ist, falls es das gibt.
Ich werde es Norm zeigen. Ich bekomme etwas ganz Tolles.
Schon konnte sie spüren, wie ihr Körper aufblühte, ausgefüllt wurde, der Saft darin hochstieg. Monate, ja, Jahre, hatte sie im unfruchtbaren Winter des Schreckens gelebt, sich an ihren Mann geklammert und ihn in seiner Stimmung verzweifelter Leere gepflegt, in der Hoffnung, verhindern zu können, daß er sie allein ließ. Jetzt, da er fort war, brauchte sie nicht länger zu fürchten, daß er gehen würde. Sie kehrte ins Leben zurück. Sie fühlte sich jünger.
Ich zeige es Norm Pomrath schon, dachte Helaine. Es wird ihm noch leid tun, daß er fortgegangen ist.
13
Es war Morgen. Quellen hatte bewußt zugelassen, daß der festgenommene Lanoy die Nacht im Gewahrsamstank verbringen mußte, damit er Gelegenheit fand, über seine Verbrechen nachzudenken. Lanoy war von allen Sinnesempfindungen abgetrennt. Er schwamm in einem Bad aus warmer Nährflüssigkeit, alles Zufließende war unterbunden, so daß er nichts wahrnahm als seine eigene unerfreuliche Lage. Eine solche Behandlung wirkte oft sehr nachdrücklich auch auf die härtesten Leute. Und nach Broggs Worten war Lanoy der härteste Brocken seit langem.
Quellen hatte die Neuigkeit zu Hause erfahren, am späten Abend, nicht lange vor Helaines Anruf. Er hatte Anweisungen gegeben, wie mit Lanoy zu verfahren sei, war aber nicht selbst ins Amt gefahren, um sich den Mann anzusehen. Leeward hatte ihn abgeliefert, während Brogg am Sprungort zurückgeblieben war.