Fein. Nun brauchte er nur noch Geld, eine Identität, eine Wohnung. Innerhalb einer Woche würde er ganz in die Matrix dieser Zeit eingetaucht sein.
Er sog Luft in die Lunge. Er fühlte sich zuversichtlich, lebendig, in Hochstimmung. Hier gab es keine Stellungsmaschine. Er konnte nach eigenem Vermögen existieren, sich allein mit den unerbittlichen Kräften des Universums auseinandersetzen und sie sogar ein bißchen zum Nachgeben zwingen. In seiner eigenen Zeit war er nur eine Nummer auf einer Lochkarte, eine Anhäufung von Ionen auf einem Datenspeicherband gewesen. Hier konnte er seine Rolle selbst wählen und sie ausnützen.
Pomrath trat aufs Geratewohl in einen Laden. Man verkaufte hier Bücher. Keine Spulen; Bücher. Er betrachtete sie staunend. Billiges, schlechtes Papier; unscharfer Druck; dünner Einband. Er griff nach einem Roman, blätterte darin, stellte den Band zurück. Ein anderer Band schien ein bekanntes medizinisches Handbuch zu sein. Es würde nützlich sein. Er fragte sich, wie er es ohne Geld an sich bringen konnte. Er wollte vor niemandem zugeben, daß er ein Springer war. Er wollte es allein schaffen.
Ein Mann, in dem er den Besitzer vermutete, kam heran — dick, unsauber im Gesicht, wäßrig-blaue Augen. Pomrath lächelte. Er wußte, daß seine Kleidung ihn als Fremden verriet, hoffte aber, daß er damit nicht allzu deutlich als Besucher aus der Zeit auffiel.
Der Mann sagte mit leiser, wispernder Stimme: »Unten ist Besseres. Wollen Sie was erleben?«
Pomraths Lächeln wurde breiter.
»Tut mir leid, ich spreche nicht leicht. Mein Englisch sehr schlecht.«
»Was erleben, habe ich gesagt. Erleben. Unten. Sind Sie von außerhalb?«
»Besucher aus slawische Land. Verstehen Ihre Sprache nur wenig«, sagte Pomrath mit einem, wie er hoffte, starken tschechischen Akzent. »Vielleicht Sie helfen? Fühle mich hier unsicher.«
»Das dachte ich mir schon. Ein einsamer Ausländer. Na, gehen Sie hinunter. Die Mädels heitern Sie auf. Zwanzig Dollar. Haben Sie Dollar?«
Pomrath begann zu begreifen, was im Keller der Buchhandlung vorging. Er nickte heftig und ging nach hinten, das medizinische Fachbuch in der Hand. Der Besitzer schien nichts zu bemerken.
Stufen führten hinunter. Stufen! Pomrath wußte kaum, was er da vor sich hatte. Er packte fest das Geländer und stieg unsicher hinunter. Unten leuchtete ihn eine Art Abtaster an, und er hörte einen Piepslaut, der vermutlich mitteilte, daß er keine Waffen trug. Eine beleibte Frau in wallendem Gewand kam herausgerauscht, um ihn zu begutachten.
In seiner eigenen Zeit gab es öffentliche Sexkabinen, allen offen, ohne Heimlichkeit. Es lag nahe, daß in dieser neupuritanischen Zeit Mädchenzellen in den Untergeschossen alter, muffiger Gebäude versteckt waren. Das Laster war hier pro Kopf wohl häufiger als in der Zukunft, dachte Pomrath.
Die Frau sagte: »Sie sind der Ausländer, den AI heruntergeschickt hat, hm? Sie sehen wirklich ausländisch aus. Woher sind Sie, aus Frankreich?«
»Slawenbezirk. Prag.«
»Wo ist das?«
Pomrath blickte unsicher.
»Europa. Im Osten.«
Die Frau zuckte mit den Achseln und führte ihn hinein. Pomrath stand in einem kleinen, niedrigen Raum, der ein Bett, eine Waschgelegenheit und ein blondes Mädchen mit teigigem Gesicht enthielt. Das Mädchen ließ den Morgenrock fallen. Ihr Körper war weich und ein wenig schwabbelig, aber durchaus anziehend. Sie sah jung aus und intelligenter, als ihr Beruf zu verlangen schien.
»Das macht zwanzig Dollar«, sagte sie geduldig.
Pomrath wußte, daß der Augenblick der Wahrheit gekommen war. Er schaute sich nervös im Zimmer um und sah keine Abtaster. Er konnte natürlich nicht sicher sein. Selbst in dieser Zeit war man, was Bespitzelung anging, sehr fortschrittlich gewesen, und es gab für ihn keinen Zweifel daran, daß man zu denselben schmutzigen Tricks griff, die in seiner eigenen Zeit üblich waren. Aber er mußte das Risiko eingehen. Früher oder später brauchte er in dieser Zeit hier einen Verbündeten, und jetzt war der passende Augenblick gekommen, damit anzufangen.
»Ich habe kein Geld«, sagte Pomrath ohne den nachgemachten Akzent.
»Dann hau ab hier!«
»Psst. Nicht so schnell. Ich habe ein paar Ideen. Setzen Sie sich. Beruhigen Sie sich. Möchten Sie reich werden?«
»Sind Sie von der Polizei?«
»Ich bin fremd in der Stadt und brauche einen Freund. Ich habe Pläne. Helfen Sie mir, dann haben Sie das hier rasch hinter sich. Wie heißen Sie?«
»Lisa. Sie sprechen merkwürdig. Was sind Sie, Springer oder was?«
»Ist das so auffällig?«
»Nur geraten.« Die Augen des Mädchens waren tiefblau, sehr groß. Sie zog ihren Morgenrock wieder an, so, als halte sie es nicht für schicklich, geschäftliche Dinge nackt zu besprechen. Mit leiser Stimme sagte sie: »Sind Sie eben angekommen?«
»Ja. Ich bin Arzt. Ich kann uns enorm reich machen. Bei meinen Kenntnissen —«
»Wir werfen alle Turbinen an, Kleiner«, sagte sie. »Sie und ich. Wie heißen Sie?«
»Keystone«, sagte Pomrath wahllos. »Mort Keystone.«
»Wir reißen Bäume aus, Mort.«
»Das weiß ich. Wie bald können Sie hier raus?«
»Zwei Stunden noch.«
»Wo treffen wir uns?«
»Zwei Straßen von hier ist ein Park. Sie können sich da hinsetzen und warten. Ich komme.«
»Ein was?«
»Ein Park. Sie wissen schon, Gras, Bänke, ein paar Bäume. Was ist denn, Mort?«
Pomrath empfand die Fremdartigkeit, mitten in einer Stadt Bäume und Gras zu haben, ganz stark. Er zwang sich ein Lächeln ab.
»Nichts ist los. Ich warte im Park auf Sie.« Er gab ihr das Buch. »Da. Kaufen Sie das für mich, wenn Sie gehen. Ich möchte es nicht stehlen müssen.«
Sie nickte und sagte dann: »Sind Sie sicher, daß Sie sonst nichts wollen, wenn Sie schon hier unten sind?«
»Das hat bis später Zeit«, erwiderte Pomrath. »Ich warte im Park.« Er ging hinaus. Der Buchhändler winkte ihm fröhlich zu. Pomrath antwortete mit einer Reihe beliebiger Kehllaute und trat auf die Straße hinaus. Es war schwer für ihn, zu glauben, daß er vor nur wenigen Stunden und vierhundertneunundvierzig Jahren in der Zukunft am Rand eines seelischen Zusammenbruchs gestanden hatte. Er war völlig gelassen. Diese Welt bot Herausforderungen an, und er wußte, daß er sie bewältigen konnte.
Arme Helaine, dachte er. Möchte wissen, wie sie das aufgenommen hat.
Er ging mit raschen Schritten die Straße hinunter, nur vorübergehend gestört davon, daß das Pflaster nicht federte. Ich bin Mort Keystone, sagte er sich. Mort Keystone. Mort Keystone. Und Lisa wird mir helfen, Geld zu beschaffen, damit ich eine Praxis als Arzt aufmachen kann. Ich werde reich sein. Ich werde leben wie ein Zweier. Hier gibt es keine Hohe Regierung, die mich niederwerfen kann.
Ich werde Macht und Rang unter diesen Primitiven haben, sagte er sich erfreut. Und wenn ich mich eingerichtet habe, werde ich ein paar Leute aus meiner eigenen Zeit aufspüren, damit ich mir nicht so isoliert vorkomme. Wir werden alten Erinnerungen nachhängen, dachte er.
Erinnerungen an die Zukunft.
14
Quellen wartete drei Stunden, bis Koll und Spanner mit anderen Dienstgeschäften beschäftigt waren. Dann ging er den Flur hinunter zum Gewahrsamstank. Er öffnete den Scannerschlitz und spähte hinein. Lanoy schwamm friedlich in der dunkelgrünen Flüssigkeit, völlig entspannt, offenkundig zufrieden. An der geriffelten Tankwandung zeigten die Meßgeräte an, was mit dem Mann vorging. EEG- und EKG-Linien tanzten und wanderten. Herzschlag, Atmung, alles wurde registriert.
Quellen rief einen Techniker und sagte: »Holen Sie ihn da raus.«
»Sir, wir haben ihn erst vor ein paar Stunden wieder hineingetan.«