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Er schüttelte den Kopf. Es war sehr rührend, dieser plötzliche Anfall von Zuneigung, aber er sah Helaine in der Wohnung schon genug, Tag und Nacht. Er wollte nicht, daß sie auch noch mitging, wenn er sich seine armseligen Vergnügungen gönnte.

»Diesmal nicht, Schätzchen«, sagte er hastig. »Vergiß nicht, ich muß vorher die Stellungsmaschine drücken. Bleib du lieber hier. Besuch Beth Wisnack oder sonst jemand.«

»Ihr Mann ist immer noch fort.«

»Wer? Wisnack? Haben sie ihn noch nicht aufgespürt?«

»Sie glauben, er — er ist gesprungen. Ich meine, sie haben einen Televektor eingesetzt und alles«, sagte Helaine. »Keine Spur. Er ist wirklich fort.«

»Du glaubst an diese Springer-Geschichte?« fragte Pomrath.

»Natürlich.«

»Zeitreisen? Das ergibt keinen Sinn. Ich meine, ideologisch gesehen, wenn du anfängst, das Universum auf den Kopf zu stellen, wenn du die Richtung veränderst, in der die Ereignisse ablaufen, Helaine, ich meine —«

Ihre Augen waren sehr groß.

»Die Fakbänder sagen, daß es so etwas gibt. Die Hohe Regierung untersucht es. Joes Abteilung. Norm, wie kannst du sagen, es gibt keine Zeitspringer, wenn jeden Tag Menschen verschwinden? Wenn Bud Wisnack von der nächsten Etage —«

»Es gibt keinen Beweis, daß er das getan hat.«

»Wo soll er dann sein?«

»Vielleicht in der Antarktis. In Polen. Auf dem Mars. Ein Televektor kann versagen, wie alles andere auch. Ich kann das mit den Zeitreisen nicht schlucken, Helaine. Es hat keine Griffigkeit für mich, verstehst du? Es ist unwirklich, ein Hirngespinst, etwas aus dem Traum eines Schnüfflers.« Pomrath hustete. Er redete in der letzten Zeit sehr laut. Er dachte an Bud Wisnack, der klein und kahlköpfig war und ewig Bartschatten im Gesicht hatte und fragte sich, ob er wirklich über eine Zeithürde gesprungen und nach 1999 oder wohin auch sonst gegangen war.

Die Pomraths sahen einander kurze Zeit in verlegenem Schweigen an, dann sagte Helaine: »Unterstell einmal etwas, Norm. Wenn du jetzt hinausgingst und einer käme auf dich zu und sagte, er betreibe das Springerunternehmen und ob du in der Zeit zurückgehen und alles hinter dir lassen wolltest, was würdest du ihm sagen?«

Pomrath dachte nach.

»Ich würde nein sagen. Ich meine, wäre es ehrenhaft, Frau und Familie im Stich zu lassen? Ein Bud Wisnack kann das machen, aber ich würde es nicht fertigbringen, mich der ganzen Verantwortung zu entziehen, Helaine.«

Ihre graublauen Augen funkelten. Sie zeigte ihr Mach-mir-nichts-vor-Lächeln.

»Sehr edel gesprochen, Norm, aber ich glaube, du würdest trotzdem gehen.«

»Du kannst denken, was du willst. Da das ohnehin alles nur Hirngespinste sind, spielt es auch gar keine Rolle. Ich sehe mir jetzt die Stellungsmaschine an. Ich gebe ihr einen richtigen Knuff. Wer weiß? Vielleicht werde ich auf einen Schlag zu Joe auf Stufe Sieben befördert.«

»Vielleicht«, sagte Helaine. »Wann bist du wieder da?«

»Später.«

»Norm, bleib nicht zu lange im Schnüffellokal. Ich hasse es, wenn du dich mit dem Zeug antörnst.«

»Ich bin die Massen«, sagte er. »Ich brauche mein Opium.«

Er legte die Handfläche an die Tür. Sie glitt mit einem leisen Keckem zur Seite, und er trat hinaus. Die Flurlampe brannte schwächlich. Pomrath tastete sich fluchend zum Lift voran. In Häusern der Stufe Sieben war die Korridorbeleuchtung nicht so, das wußte er. Er hatte Joe Quellen besucht. Nicht oft freilich; sein Schwager ließ sich nicht viel mit den Proleten ein, selbst wenn es sich um seine eigenen Verwandten handelte. Aber Pomrath hatte es gesehen. Quellen hatte ein verdammt schönes Dasein. Und was war er schon? Was konnte er? Er war nichts als ein Bürokrat, ein Federfuchser. Alles, was Joe Quellen tun konnte, vermochte jeder Computer besser zu machen. Aber er hatte eine Stellung. Ein Amt.

Mit düsterer Miene starrte Pomrath auf sein verzerrtes Spiegelbild im brünierten Rahmen des Liftovals. Er war ein untersetzter, breitschultriger Mann knapp über Vierzig mit buschigen Brauen und müden, traurigen Augen. Das Spiegelbild ließ ihn älter erscheinen, mit dickem Hals. Laß mir Zeit, dachte er. Er trat durch das Oval und wurde zum Dachgeschoß des riesigen Wohngebäudes hinaufgejagt.

Ich habe meine Entscheidungen aus eigenem freien Willen getroffen, sagte er sich störrisch. Ich habe die üppige Helaine Quellen geheiratet. Ich bekam meine zwei erlaubten Kinder. Ich habe mich für meinen Beruf entschieden. Und hier sitze ich in einem Raum für vier Personen, meine Frau ist mager, und ich sehe sie nicht an, wenn sie nackt ist, weil ich ihre Nerven schonen muß, und die Sauerstoffration ist verbraucht, und jetzt gehe ich hin und drücke die Stellungsmaschine und höre das alte, alte Lied, dann gebe ich im Schnüffellokal ein paar lausige Münzen aus, und —

Pomrath fragte sich, was er wirklich tun würde, wenn irgendein Vertreter der Zeitsprung-Leute zu ihm käme und anböte, ihm eine Fahrkarte ins stillere Gestern zu verhökern. Würde er es Bud Wisnack nachmachen und die Gelegenheit beim Schopf ergreifen?

Das ist doch Unsinn, sagte sich Pomrath. Eine solche Möglichkeit besteht nicht. Die Zeitspringer sind Einbildung. Betrug, begangen von der Hohen Regierung. Man kann nicht rückwärts durch die Zeit reisen. Alles, was man tun kann, ist, unerbittlich vorwärtszugehen, mit einer Geschwindigkeit von einer Sekunde pro Sekunde.

Aber wenn das wirklich so ist, fragte sich Norman Pomrath, wo ist Bud Wisnack dann hingegangen?

Als die Wohnungstür sich schloß und Helaine allein war, sank sie müde auf die Kante des Allzwecktisches mitten im Zimmer und biß heftig auf ihre Unterlippe, um die Tränen zurückzuhalten.

Er hat mich nicht einmal wahrgenommen, dachte sie. Ich habe vor seinen Augen geduscht, und er hat mich nicht einmal wahrgenommen.

Eigentlich war das gar nicht wahr, mußte Helaine zugeben.

Sie hatte sein Spiegelbild in der kupfrigen Wandtafel beobachtet, die ihnen als Fensterersatz diente, und gesehen, wie er verstohlen auf ihren Körper geblickt hatte, während sie mit dem Rücken zu ihm unter der Dusche gewesen war. Und dann, als sie nackt durch das Zimmer gegangen war, um nach ihrer Tunika zu greifen, hatte er sie wieder angesehen, von vorn.

Aber getan hatte er nichts. Das war das Entscheidende. Wenn er auch nur einen Funken sexuellen Gefühls für sie gespürt hätte, wäre das erkennbar gewesen. An einem Streicheln, einem Lächeln, dem hastigen Druck auf den Knopf, der das Klappbett aus der Wand gleiten ließ. Er hatte ihren Körper angesehen, und jede Wirkung war ausgeblieben. Darunter litt Helaine mehr als unter allem anderen.

Sie war fast siebenunddreißig Jahre alt. Das war noch nicht wirklich alt. Sie hatte noch siebzig oder achtzig Jahre Lebensspanne vor sich, der Statistik nach. Trotzdem fühlte sie sich alt. Sie hatte in der letzten Zeit stark abgenommen, so daß ihre Hüftknochen wie verirrte Schulterblätter hinausragten. Sie trug ihre busenfreien Kleider nicht mehr. Sie wußte, daß sie ihrem Mann nicht mehr viel sinnlichen Anreiz bot, und das schmerzte sie.

Entsprachen sie der Wahrheit, die Gerüchte, daß die Hohe Regierung spezielle Anti-Sex-Gesetze vorbereitete? Daß auf Anordnung Dantons die Männer Impotenzpillen und die Frauen Entsinnlicher bekamen? Das flüsterten die Frauen. Noelle Kalmuck behauptete, der Wäschereicomputer hätte ihr das gesagt. Man mußte glauben, was ein Computer einem sagte, nicht wahr? Mutmaßlich war die Maschine direkt an die Hohe Regierung angeschlossen.

Aber es ergab keinen Sinn. Helaine war kein Genie, doch sie besaß gesunden Menschenverstand. Weshalb sollte die Hohe Regierung gegen den Sexualtrieb vorgehen wollen? Gewiß nicht als Mittel zur Geburtenkontrolle. Die Geburten wurden humaner im Zaum gehalten, durch Eingriff in die Fruchtbarkeit, nicht in die Potenz. Zwei Kinder pro verheiratetes Paar, aus. Wenn man nur eines zugelassen hätte, wäre man beim Bevölkerungsproblem vielleicht vorangekommen, aber leider gab es einflußreiche Interessenverbände, die auf der Zwei-Kinder-Familie bestanden, und sogar die Hohe Regierung hatte sich ihnen gebeugt. Die Bevölkerung blieb also stabil und ging sogar ein wenig zurück — wenn man die Junggesellen wie Helaines Bruder Joe und die Paare berücksichtigte, die sich zur Sterilisierung verpflichtet hatten, nebst anderen —, aber echte Fortschritte ließen sich nicht erzielen.