Immerhin, da die Fruchtbarkeit unter Kontrolle war, erschien es unlogisch, wenn die Hohe Regierung auch noch den Sex wegnehmen wollte. Sex, das war der Sport der Proleten. Er kostete nichts. Man brauchte keine Arbeit zu haben, um den Sex zu genießen. Er vertrieb die Zeit. Helaine kam zu dem Schluß, daß die Gerüchte Unsinn waren. Sie bezweifelte, daß der Wäschereicomputer zu diesem Thema Noelle Kalmuck etwas mitgeteilt hatte. Weshalb sollte der Computer mit Noelle überhaupt geredet haben? Sie war doch nur eine kichernde kleine Gans.
Aber genau wußte man es nie. Die Hohe Regierung konnte verschlagen sein. Diese Zeitspringer-Geschichte etwa. Ob daran etwas Wahres sein mochte? Es gab zwar die beglaubigten Dokumente von Zeitspringern, die in frühere Jahrhunderte gelangt waren, aber wenn das nun alles Betrüger gewesen waren, in die Geschichtsbücher nur eingeführt, um Verwirrung zu stiften? Was war Wirklichkeit, was Einbildung?
Helaine seufzte.
»Wie spät ist es?« fragte sie.
Ihre Ohrenuhr antwortete leise: »Zehn Minuten vor Fünfzehn.«
Die Kinder würden bald von der Schule kommen. Der kleine Joseph war sieben, Marina neun Jahre alt. In diesem Alter besaßen sie noch Reste von Unschuld, soweit Kinder sie haben konnten, die ihr ganzes Leben im Zimmer der Eltern verbringen. Helaine ging zum Nahrungsschrank und programmierte mit wütenden Stößen ihrer Fingerknöchel ihren Nachmittagsimbiß ein.
Sie war eben damit fertig, als die Kinder erschienen.
Sie begrüßten sie. Helaine zog die Schultern hoch.
»Schließt euch an und eßt«, sagte sie.
Joseph grinste sie engelhaft an.
»Wir haben heute in der Schule Kloofman gesehen. Er sieht aus wie Pappi.«
»Sicher«, sagte Helaine. »Die Hohe Regierung hat nichts Besseres zu tun, als Schulen zu besuchen, ich weiß. Und der Grund dafür, daß Kloofman wie Pappi aussieht, ist der —« Sie brach ab. Sie hatte eine Unwahrheit sagen wollen, aber Joseph nahm alles wörtlich. Er würde es wiederholen, und am Tag darauf würden die Ermittler erscheinen und wissen wollen, warum die Familie Pomrath, Stufe Vierzehn, behauptete, mit einem von Denen verwandt zu sein.
»Es war in Wirklichkeit gar nicht Kloofman«, warf Marina ein. »Nicht persönlich. Man hat nur Bilder von ihm an der Wand gezeigt.« Sie stieß ihren Bruder an. »Kloofman kommt doch nicht in eure Klasse, du Dummer. Er hat viel zuviel zu tun.«
»Wo ist Pappi?« fragte Joseph.
»Er ist zur Stellungsmaschine gegangen, um sie zu drücken.«
»Bekommt er heute eine Stellung?« fragte Marina.
»Schwer zu sagen.« Helaine lächelte ausweichend. »Ich mache einen Besuch bei Mrs. Wisnack.«
Die Kinder aßen. Helaine trat hinaus und ging hinauf zum Stockwerk, wo die Wisnacks wohnten. Die Tür verriet ihr, daß Beth zu Hause war. Helaine meldete sich und wurde eingelassen. Beth Wisnack nickte ihr stumm zu. Sie wirkte furchtbar müde. Sie war eine kleine Frau, gerade eben Vierzig, mit schwarzen, vertrauensvollen Augen und mattgrünem Haar, das hinten zu einem Knoten fest zusammengebunden war. Ihre beiden Kinder, Junge und Mädchen, saßen, wie üblich, mit dem Rücken zur Tür und aßen.
»Gibt es was Neues?« fragte Helaine.
»Nein. Nichts. Er ist fort, Helaine. Sie wollen es noch nicht zugeben, aber er ist gesprungen und wird nie mehr zurückkommen. Ich bin Witwe.«
»Und die Televektor-Suche?«
Die kleine Frau zog die Schultern hoch.
»Nach dem Gesetz müssen sie acht Tage weitermachen. Dann ist es vorbei. Sie haben das Register der Springer überprüft, aber ein Wisnack steht nicht darauf. Das hat natürlich nichts zu bedeuten. Nur ganz wenige benützten ihren richtigen Namen, als sie in der Vergangenheit ankamen. Und bei den frühen ist nicht einmal die äußerliche Beschreibung festgehalten worden. Es wird also keinen Beweis geben. Aber er ist fort. Ich beantrage nächste Woche meine Pension.«
Helaine fühlte die Last von Beth Wisnacks Elend wie eine Art zusätzlicher Feuchtigkeit im Zimmer. Sie fühlte mit ihr. Das Leben hier auf Stufe Vierzehn war nicht sehr reizvoll, aber man hatte wenigstens den Familienverband, an den man sich in Notzeiten klammern konnte. Beth hatte nicht einmal mehr das. Ihr Ehemann hatte eine lange Nase gedreht und war auf einer Einbahnstraße in die Vergangenheit entschwunden. ›Leb wohl, Beth, lebt wohl, Kinder, leb wohl, mieses 25. Jahrhundert‹ hätte er ebensogut sagen können, als er durch den Zeittunnel verschwand. Der Feigling konnte die Verantwortung nicht tragen, dachte Helaine. Und wer würde Beth Wisnack jetzt heiraten?
»Du tust mir so leid«, murmelte Helaine.
»Geschenkt. Du wirst auch Ärger kriegen. Alle Männer werden davonlaufen, wart nur ab. Norm wird auch gehen. Sie reden in großen Tönen von Verpflichtungen, aber dann flüchten sie. Bud hat auch geschworen, er würde nie gehen. Aber er war zwei Jahre lang arbeitslos, weißt du, und selbst mit dem Scheck jede Woche konnte er es nicht mehr aushalten. Da ging er.«
Helaine behagte die Andeutung nicht, ihr eigener Mann stehe im Begriff, das Weite zu suchen. Es war eigentlich gemein von Beth, ihr so etwas zu wünschen, auch in ihrem ganzen Kummer. Schließlich bin ich als Nachbarin gekommen, um sie zu trösten, dachte Helaine. Beths Worte waren nicht nett gewesen.
Beth schien es zu erkennen.
»Setz dich«, sagte sie. »Ruh dich aus. Unterhalt dich mit mir. Ich sage dir, Helaine, ich weiß kaum noch, was normal ist, seit der Nacht, als Bud nicht mehr wiederkam. Ich kann dir nur wünschen, daß dir diese Qual erspart bleibt.«
»Du darfst die Hoffnung noch nicht aufgeben«, sagte Helaine leise.
Leere Worte, das wußte Helaine. Beth Wisnack wußte es auch.
Vielleicht spreche ich mit meinem Bruder Joe, dachte sie. Besuche ihn noch einmal. Vielleicht kann er doch etwas für uns tun.
Er ist Stufe Sieben, ein bedeutender Mann.
Mein Gott, ich will nicht, daß Norm ein Springer wird!
3
Quellen war froh, von Koll und Spanner fortzukommen. Sobald er wieder in seinem eigenen Büro war, an seinem eigenen kleinen, aber privaten Schreibtisch, konnte Quellen seinen Rang wieder fühlen. Er war mehr als ein Lakai, gleichgültig, wie sehr Koll ihn herumstoßen mochte.
Er läutete nach Brogg und Leeward, und die beiden Unterseks erschienen fast augenblicklich.
»Gut, Sie wiederzusehen«, sagte Stanley Brogg mürrisch. Er war ein großer Mann, schwermütig, mit groben Zügen und dicken, dichtbehaarten Fingern. Quellen nickte ihm zu und streckte die Hand aus, um den Sauerstoffschieber zu öffnen, ließ Luft ins Zimmer strömen und bemühte sich, den herablassenden Blick nachzuahmen, den Koll ihm vor einer Viertelstunde bei der gleichen Gelegenheit zugeworfen hatte. Brogg wirkte nicht ehrfurchtsvoll. Er war nur Stufe Neun, hatte aber Macht über Quellen, und beide wußten es.
Leeward sah auch nicht ehrfürchtig aus, aber das hatte andere Gründe. Leeward war für kleine Gesten einfach unempfindlich. Er war ein riesengroßer, hagerer, verschlossener Mann, der seiner Arbeit auf routinehaft methodische Weise nachging. Kein Dummkopf, aber auch dazu bestimmt, nie über Stufe Neun hinauszukommen.
Quellen betrachtete seine beiden Mitarbeiter. Er konnte die Art, wie Brogg ihn stumm und prüfend ansah, nicht ertragen. Brogg war der einzige, der das Geheimnis des afrikanischen Verstecks kannte; ein Drittel von Quellens beträchtlichem Gehalt war der Preis, der Brogg über Quellens geheime Zweitwohnung schweigen ließ. Leeward wußte nichts und kümmerte sich nicht; er empfing seine Befehle direkt von Brogg, nicht von Quellen, und Erpressung war keine Spezialität von ihm.