»Ich nehme an, Sie sind über unseren Auftrag unterrichtet, das Verschwinden von Proleten in der letzten Zeit aufzuklären«, begann Quellen. »Die sogenannten Zeitspringer sind, wie wir schon seit einigen Jahren vorausgesehen haben, unter die Zuständigkeit des Sekretariats Verbrechen gefallen.«
Brogg wies einen dicken Stapel Minizettel vor.
»Ich wollte mich wegen der Sache ohnehin mit Ihnen ins Benehmen setzen. Die Hohe Regierung läßt starkes Interesse erkennen. Koll hat keinen Zweifel daran, daß Kloofman selbst beteiligt ist. Ich habe die neuen Statistiken. In den ersten vier Monaten dieses Jahres sind achtundsechzigtausend Proleten verschwunden.«
»Aber Sie arbeiten an der Sache?«
»Selbstverständlich«, sagte Brogg.
»Fortschritte?«
»Tja«, sagte Brogg, ging in dem kleinen Raum hin und her und wischte sich den Schweiß vom Hals, »Sie kennen die Theorie, auch wenn sie verschiedentlich angefochten worden ist. Daß die Springer sich von unserem benachbarten Zeitnexus aus auf den Weg machen. Ich habe ein Diagramm erstellt. Berichten Sie, Leeward.«
»Die statistische Auswertung zeigt, daß die Theorie zutrifft. Das derzeitige Verschwinden von Proleten steht in direktem Zusammenhang mit historischen Dokumenten über das Auftauchen sogenannter Springer Ende des zwanzigsten Jahrhunderts und in den folgenden Jahren.«
Brogg zeigte auf einen blaubezogenen Band auf Quellens Schreibtisch.
»Geschichtsspule. Ich habe sie Ihnen herausgelegt. Sie bestätigt meine Erkenntnisse. Die Theorie ist richtig.«
Quellen fuhr mit dem Finger an seinem Unterkiefer entlang und fragte sich, wie das sein mußte, soviel Fett am Gesicht mit sich herumzutragen, wie Brogg das tat. Brogg schwitzte stark und machte ein trauriges Gesicht; er flehte Quellen mit stummen Blicken buchstäblich an, die Sauerstoffzufuhr zu erhöhen. Der Augenblick der Überlegenheit erfreute den gehetzten Krim-Sek, und er streckte die Hand nicht nach der Wand aus, Quellen sagte lebhaft: »Sie haben nur das Naheliegende bestätigt. Wir wissen, daß die Springer sich ungefähr von dieser Zeit aus auf den Weg machen. Das ist bekannt seit ungefähr 1979. Die Direktive der Hohen Regierung weist uns an, den Distributionsvektor zu klären. Ich habe sofort einen Aktionsplan aufgestellt.«
»Genehmigt natürlich von Koll und Spanner«, sagte Brogg frech. Seine Hängebacken bebten, während seine Stimme durch sie hindurchdröhnte.
»So ist es«, sagte Quellen so nachdrücklich, wie er konnte. Es ärgerte ihn, daß Brogg ihn so mühelos kleinmachen konnte. Koll, ja, Spanner, ja — aber Brogg war eigentlich sein Untergebener. Nur wußte Brogg zuviel über ihn. Quellen sagte: »Ich wünsche, daß Sie den Schlauberger aufspüren, der die Springer zurücklotst. Tun Sie alles im Rahmen des Erlaubten, um diese illegale Tätigkeit zu unterbinden. Bringen Sie ihn her. Ich wünsche, daß er gefaßt wird, bevor er auch noch andere in die Vergangenheit schickt.«
»Ja, Sir«, sagte Brogg mit ungewohnter Unterwürfigkeit. »Wir befassen uns damit. Das soll heißen, wir werden unsere schon eingeleiteten Ermittlungen fortsetzen. Wir haben in verschiedenen Proletenschichten Verbindungsleute. Wir tun, was wir können, um eine Spur zu finden. Ich glaube, daß es nur noch eine Frage der Zeit ist. Ein paar Tage. Eine Woche. Die Hohe Regierung wird zufrieden sein.«
»Das wollen wir hoffen«, knurrte Quellen und entließ sie. Er nahm ein Sichtfenster in Betrieb und starrte auf die Straße tief unten. Es schien ihm, als könne er die fernen Gestalten von Brogg und Leeward erkennen, als sie auf der Straße auftauchten, sich zu einem Gleitweg durchboxten und in den Menschenmengen verschwanden, die das Freie bevölkerten. Quellen wandte sich ab, griff mit beinahe wilder Freude nach dem Luftschieber und öffnete ihn weit. Er lehnte sich zurück. Verborgene Finger im Sessel massierten ihn. Er blickte auf das Buch, das Brogg für ihn dagelassen hatte, und preßte müde die Daumen auf die Augäpfel.
Springer!
Es war unausweichlich gewesen, daß man ihm das hinwarf, begriff er. Es geschah mit allen Seltsamkeiten, mit den dürren Verschwörungen gegen Recht und Ordnung. Vor vier Jahren war es das Syndikat für geschmuggelte künstliche Organe gewesen. Geschädigte Bauchspeicheldrüsen, verhökert in finsteren Gassen, pochende, blutgefüllte Herzen, endlose Windungen glänzender Eingeweide, an den Mann gebracht von zwielichtigen Gaunern, die lautlos von Zone zu Zone huschten. Dann die Fruchtbarkeitsbank und das schmutzige Geschäft mit den Sperma-Abhebungen. Und dann die angeblichen Geschöpfe aus dem Nachbaruniversum, die durch die Straßen von Appalachia gerannt waren, grauenhafte rote Kiefer klappern ließen und mit schuppigen Klauen nach Kindern griffen. Quellen hatte diese Aufgaben bewältigt, nicht glanzvoll, weil das nicht seine Art war, aber wenigstens sachkundig.
Und jetzt Springer.
Der Auftrag entnervte ihn. Er hatte um Nieren aus zweiter Hand gefeilscht und am Preis von Eizellen gemäkelt, das gehörte alles dazu, aber diese Geschichte, illegale Zeitreisen zu unterbinden, gefiel ihm nicht. Das Gefüge des Kosmos schien aus dem Lot zu geraten, sobald man die Möglichkeit einräumte, daß dergleichen geschehen konnte. Es war schon schlimm genug, daß die Zeit unerbittlich vorwärtsschritt; das konnte man verstehen, auch wenn es einem nicht unbedingt gefiel. Aber rückwärts? Eine Umkehrung aller Logik, Widerlegung aller Vernunft? Quellen war ein vernünftiger Mensch. Zeitparadoxien beunruhigten ihn. Wie leicht würde es fallen, ins Stat zu treten, Appalachia hinter sich zu lassen, in die friedliche Schwüle seiner afrikanischen Zuflucht zurückzukehren und alle Verantwortung abzuschütteln, dachte er.
Er rang die schleichende Teilnahmslosigkeit nieder, die ihn erfaßte, und knipste den Projektor an. Dreidimensionale Julesz-Figuren zuckten über den Schirm, während seine Augen sich an undifferenziertes Schwarz und Weiß gewöhnten. Der Julesz-Filter sorgte stets für Schärfentiefe, gleichgültig, wie stark die optische Verzerrung sein mochte. Die Geschichtsspule begann zu laufen. Quellen sah die Wörter messerscharf vorbeirollen:
Das erste Anzeichen der Invasion aus der Zukunft erschien um das Jahr 1979, als im Bezirk Appalachia, damals unter dem Namen Manhattan bekannt, mehrere Männer in seltsamer Kleidung auftauchten. Die Dokumente zeigen, daß sie im Lauf des nächsten Jahrzehnts mit zunehmender Häufigkeit erschienen. Auf Befragung gaben zuletzt alle zu, daß sie aus der Zukunft gekommen seien. Der Druck immer wieder erneuter Beweise zwang die Menschen des 20. Jahrhunderts schließlich dazu, sich mit der beunruhigenden Schlußfolgerung abzufinden, daß sie tatsächlich einer friedlichen, aber lästigen Invasion durch Zeitreisende ausgesetzt waren.
Es gab noch mehr, eine ganze Spule noch, aber Quellen hatte für den Augenblick genug. Er schaltete den Projektor ab. Die Hitze in dem kleinen Raum war bedrückend, trotz Klimaanlage und Sauerstoffzufuhr. Er konnte seinen eigenen scharfen Schweiß riechen und fand ihn unangenehm. Quellen blickte verzweifelt auf die beengenden Wände und dachte sehnsüchtig an den schlammigen Fluß vor der Veranda seiner afrikanischen Zuflucht.
Er trat auf das Pedal des Minizettel-Diktafons und entledigte sich einiger Notare:
›1. Können wir einen Springer in Aktion fassen? Das heißt, einen Menschen aus unserer eigenen Zeit, der, sagen wir, zehn oder zwanzig Jahre zurückgegangen ist und seine eigene Lebensspanne ein zweitesmal durchlebt hat? Gibt es solche Menschen? Was würde geschehen, wenn einer davon sich selbst im Vor-Springer-Dasein begegnen sollte?
2. Unterstellt, ein solcher Springer ist gefaßt: Verhörmethoden anwenden, um die Quelle der ursprünglichen Rückwärtsbewegung zu ermitteln.
3. Nach den heutigen Hinweisen hört die Springer-Erscheinung im Jahr 2491 auf. Deutet das auf den Erfolg unserer Verhütungsmaßnahmen hin oder lediglich auf Lücken in den Dokumenten?