Zwei Schüsse fielen nacheinander. Weißer Rauch stieg von den glühenden Läufen auf, den herben Duft von Schießpulver zwischen den Wänden des engen Raumes verbreitend. Die zähe, schwere Luft war durchtränkt von dem scharfen Schweißgeruch.
Dünne, gar dürre Finger der jungen Selma berührten zärtlich die goldenen Locken des neugeborenen Azzo. Sein engelsgleiches Gesicht erinnerte die junge Frau stets an Bernhard, den Ehemann, von dem sie seit fast einem Jahr keinerlei Nachrichten erhielt.
Der große blonde Bernhard studierte seinerzeit zusammen mit ihr an der Fakultät für Deutsche Geschichte. In der Anfangszeit traute er sich nicht in die Nähe von Selma, was er später sehr bereute. Erst, als der Staat zur Offensive in Richtung Osten blies, lernte Bernhard endlich Selma kennen. Denn er verstand gut, dass es nicht lange dauern würde, dass auch er an die Front einberufen werden würde.
Selma gefiel der große und unbeholfene Bernhard, welcher in seiner Größe kaum dem Schrank in ihrem Schlafzimmer nachstand. Sie lachte aufrichtig über die lustigen Geschichten, die er ihr erzählte.
Deutschland drang erfolgreich vor und es schien, dass nichts und niemand diese unerbittliche, unbezwingbare Maschine von einem Staat aufhalten konnte, welche von Hitler auf die Beine gestellt worden war. Zu viele Teutonen glaubten an die heilige Mission der Nation. Groß und Klein wollte die Geburt eines neuen Imperiums von Ariern sehen. Ungeachtet aller Schwierigkeiten widmeten sie sich mit der charakteristischen Ordnungsliebe der Arbeit mit dem Ziel, den Sieg zu erlangen. Frauen brachten Kindern die wichtigen Ideen bei, welche ganze Völker bewegten und Länder hinwegfegten.
In einer solchen Atmosphäre des gemeinschaftlichen Strebens nach einer besseren Zukunft entstand die Familie Schulz. Bernhard wurde dem Inneren Dienst zugeteilt, stationiert zehn Kilometer von dem Haus entfernt, in das er und Selma eingezogen sind.
Täglich sammelten grüne Militärlaster Bernhard und rund ein Hundert weitere junge Männer vor den Eingangstoren einer Maschinenfabrik ein. Selma arbeitete in einem Krankenhaus, worüber Bernhard sich nicht sonderlich freuen konnte, da er eifersüchtig auf die ihm unbekannten Patienten war. Doch daran war nichts zu machen. In einer Situation, da alle Bürger des Landes einmütig handelten, gar im Einklang zu atmen schienen, dem militärischen Trommeln gleichend, kann nicht nur an die eigenen Vorteile gedacht werden. Und so überwand Bernhard seine Gefühle.
Der einzige Umstand, welcher den jungen Bernhard bekümmerte, war das Fehlen eines Kindes. Selma, wie auch er, wollte ein Kind bekommen, allerdings wollte sich die Schwangerschaft keineswegs einstellen. Wilbert Köhler, der hiesige Gynäkologe, konnte auf die Frage nach der Ursache nur ratlos mit den Schultern zucken und empfahl, Geduld zu haben.
Die Lage an der Front änderte sich langsam, aber sicher. Die mächtige Armee Hitlers stolperte und verlor Tag für Tag die Oberhand. Im Februar 1944 wurde Bernhard in die Stabszentrale einberufen, dort wurde er über die bald bevorstehende Abfahrt gen Osten benachrichtigt.
Er hatte sich zwar bereits an den Gedanken gewöhnt, dass es irgendwann dazu kommen musste, dennoch lastete es schwer auf ihm. Seine kleine, zarte Selma bliebe ganz allein. Zwischen ihm und ihr würden Tausende Felder, Hunderte von Städten und Tausende von menschlichen Schicksalen liegen. Kaum jemand könnte kreativer und unglückseliger als das Leben selbst sein. Es schuf den Menschen, er wiederum war fähig, es zu zerstören. So sinnierte traurig Bernhard vor der Abfahrt an die Front. In der Nacht, bevor er abgeholt werden sollte, konnte Selma kaum schlafen. Sie weckte Bernhard um Mitternacht.
Unter den unbewegten, verschlafenen Gesichtern der Soldaten gab es ein zufriedenes. Es lächelte der fröhliche Bernhard. Nun schien sein Leben nicht mehr vergebens zu sein. Soll ihn doch eine feindliche Kugel niederstrecken, an seiner Stelle wird es neues Leben geben. Ein helles, heißes Zittern vibrierte in seiner Brust bei dem bloßen Gedanken an den Sohn. Ja. Als er von Selma die frohe Botschaft hörte, hatte er sich selbst überzeugt, dass sie einen Sohn haben werden. So trennten sie sich, mit einer Umarmung zum Abschied. Selma hatte sich gut im Griff, bis Bernhard weggefahren ist. Dann brachen die Tränen aus und spülten die Reste von Tapferkeit und Zuversicht weg.
Am zwölften Februar 1945 stieg Selma zusammen mit Azzo mit einer Gruppe von 30 Leuten in einen Luftschutzbunker. In der darauffolgenden Nacht wurde die Stadt Dresden, in der sie lebten, bombardiert. Schwärme von verzierten eisernen Vögeln warfen unzählige schwere Geschosse ab, welche alles herum in Schutt und Asche legten. Mächtige Explosionen verbrannten augenblicklich die Luft und erzeugten einen Feuersturm, vor dem kein Lebewesen standhalten konnte. Haufen von Steinen und Eisen stoben wie Holzspäne nach allen Seiten und zerschmetterten dabei sämtliche Hindernisse auf ihrem Weg. Der Eingang des Luftschutzkellers war verschüttet und der Sauerstoff fand nun keinen Weg hinein.
Heinrich Wolf, ein betagter Nachbar Selmas, hatte ihr mit den besten Absichten geholfen, hier Zuflucht zu finden. Jetzt schaute er hilflos auf die sterbenden Menschen, ohne zu wissen, wie er ihnen helfen konnte. Müde nahm eine Pistole heraus, die er stets für den Fall der Fälle bei sich trug. Nur zwei Patronen blieben in seiner Hand. Selma sah, wie sich seinen Lippen lautlos bewegten und nur ihm bekannte Worte flüsterten. Mit zugekniffenen Augen jagte der alte Heinrich seiner Frau eine Kugel in die Stirn und beförderte sich selbst ihr hinterher. Verschlafene, erschöpfte Menschen sahen einander zum letzten Mal an.
So verwandelte sich der übermächtige Drang in eine große Niederlage. Träume und Hoffnungen dieser Menschen starben langsam mit ihnen.
Erst eineinhalb Jahre später bei Aufräumarbeiten wurde die letzte Zuflucht von Selma und dem kleinen Azzo gefunden. Ohne Sauerstoff und Feuchtigkeit verwandelten sich die Körper der dreißig Menschen in Mumien, welche die letzten Leiden auf ihren Gesichtern für immer festhielten. Der große, gelbblonde Bernhard hat letztlich nichts von dem Schicksal seiner Frau und des Sohnes erfahren, denn er blieb verschollen in einem von fettem Schlamm zugezogenem Sumpf liegen.