Bolitho wandte den Kopf, als das Flaggschiff jetzt hinter einem anderen Ankerlieger sichtbar wurde.
Es war die Resolute, ein Zweidecker mit bereits fünfundzwanzig Jahren Dienstzeit, bestückt mit neunzig Geschützen. Schon lagen mehrere Boote an ihrer Backspier, woraus Bolitho schloß, daß es eine ziemlich große Versammlung werden würde. Er blickte zu der schlaff vom Kreuztopp hängenden Flagge empor und versuchte sich vorzustellen, was für ein Mensch wohl ihr Gastgeber war. Konteradmiral Graham Coutts, Befehlshaber des Küstengeschwaders, hatte das Geschick der Trojan seit ihrer Ankunft in New York gelenkt. Bolitho hatte ihn noch nie gesehen und war neugierig: vielleicht ein zweiter Pears, standfest wie ein Fels und unerschütterlich?
Er lenkte seine Aufmerksamkeit wieder der Routine ihrer Ankunft zu: die Seesoldaten an der Pforte, der Glanz von Stahl, das geschäftige Hin und Her von Blau und Weiß, gedämpfte Kommandoworte… Pears saß wie vorher, aber Bolitho bemerkte, daß seine sehnigen Fäuste sich um seine Degenscheide aus Haifischleder krampften, das erste Zeichen von Erregung, das er je bei ihm gesehen hatte. Es war ein prächtiger Degen und mußte ein Vermögen gekostet haben, eine Ehrengabe, Pears wohl für persönliche Tapferkeit oder für einen Sieg über Feinde Englands verliehen.
«Auf Riemen!«Hogg beugte sich etwas vor, seine Finger schienen die Pinne zu liebkosen, als er jetzt zum Anlegen ansetzte.»Die Riemen — hoch!»
Wie eine Wand standen im selben Augenblick die Riemen mit den tropfenden Blättern in zwei genau ausgerichteten Reihen nach oben; Wasser rieselte ungehindert auf die Knie der Ruderer.
Pears nickte der Bootscrew zu und stieg dann gelassen das Fallreep hinauf, wo er unter dem schrillen Seitepfeifen und dem üblichen Zeremoniell beim Anbordkommen eines Kommandanten seinen Hut abnahm.
Bolitho zählte bis zehn und stieg dann ebenfalls hinauf, wo ihn ein spitznasiger Offizier mit einem Teleskop unterm Arm begrüßte, der ihn musterte, als sei er soeben einem Stück alten Käses entstiegen.
«Sie müssen nach achtern gehen, Sir. «Dabei zeigte er zur Schanze, wo Pears soeben in Gesellschaft des Flaggschiffkommandanten dem Schatten zustrebte.
Bolitho sah sich auf dem Achterdeck um, das dem der Trojan fast glich: Reihen festgezurrter Geschütze, die Taljen säuberlich belegt, das Tauwerk aufgeschossen auf den schneeweißen Decksplanken. Seeleute verrichteten ihre Arbeit, ein Fähnrich, das Glas auf eine einlaufende Brigg gerichtet, bewegte beim Entziffern ihrer Kennung lautlos die Lippen. Unten auf dem Batteriedeck stand ein Seemann neben einem Korporal der Marineinfanterie, während ein anderer Fähnrich einem Offizier Meldung machte. Wurde der Mann gleich zur Bestrafung abgeführt? Zur Beförderung oder zur Degradierung? Es war eine alltägliche Szene, die vielerlei bedeuten konnte. Bolitho seufzte. Wie auf der Trojan, und doch auch wieder völlig anders.
Er ging langsam weiter nach achtern und war überrascht, Musik und gedämpftes Lachen von Männern und Frauen zu hören. Sämtliche Trennwände waren entfernt, die Admiralsräume dadurch in einen großen Saal verwandelt worden. An den offenen Heckfenstern spielten ein paar Geiger mit großer Konzentration, und zwischen der dichtgedrängten Menge von Seeoffizieren, Zivilisten und Damen eilten Stewards in roten Jacken mit Tabletts voller Gläser hin und her, während andere an einem langen Büffet diese so rasch wie möglich nachfüllten.
Pears war in der Menge verschwunden; Bolitho nickte einigen Leutnants zu, die wie er nur stillschweigend geduldet waren.
Eine hohe Gestalt erschien aus dem Gedränge, und Bolitho erkannte Lamb, den Kommandanten der Resolute. Er war ein Mann mit ruhigem Blick und strengen Gesichtszügen, die sich aber völlig veränderten, wenn er lächelte.
«Sie sind Mr. Bolitho, nicht wahr?«Lamb streckte ihm die Hand entgegen.»Willkommen an Bord. Ich habe von Ihren Taten im März gehört und wollte Sie gern kennenlernen. Wir brauchen mutige Männer, die bereits erfahren haben, was Krieg bedeutet. Es ist eine harte Zeit, aber sie bietet jungen Leuten wie Ihnen große Chancen. Wenn der Augenblick kommt, packen Sie zu. Glauben Sie mir, Bolitho, eine Chance kommt selten zweimal.»
Bolitho dachte an den schnittigen Schoner, an die plumpe Thrush. Seine Chance war schon gekommen und hatte ihn gleich wieder übergangen.
«Ich werde Sie dem Admiral vorstellen. «Lamb bemerkte Bo-lithos Ausdruck und lachte.»Er wird Sie nicht auffressen!»
Gedränge, gerötete Gesichter, laute Stimmen. Es war schwer, sich vorzustellen, daß der Krieg nur ein paar Meilen entfernt tobte. Bolitho sah mächtige blaue Schultern und einen goldberänderten Kragen: schwerfällig, plump. Eine Enttäuschung.
Aber der Kommandant schob den schwergewichtigen Mann beiseite und enthüllte eine schlanke Gestalt, die dem Dicken allerdings nur knapp bis zur Schulter reichte.
Konteradmiral Graham Coutts sah eher wie ein Leutnant als wie ein Flaggoffizier aus. Sein dunkelbraunes Haar trug er im Nacken lose zusammengebunden. Er hatte ein junges Gesicht, faltenlos und ohne die Maske der Autorität, die man sonst so oft zu sehen bekam.
Der Admiral streckte die Hand aus.»Bolitho, nicht wahr?«Er nickte und lächelte gewinnend.»Ich bin stolz, Sie kennenzulernen. «Dann winkte er einem Steward nach Wein und fuhr leichthin fort:»Ich weiß alles über Sie und vermute, wenn Sie diesen Bootsangriff geführt hätten, wäre die Brigantine möglicherweise in unsere Hand gefallen!«Er lächelte.»Auf alle Fälle zeigt es, was man leisten kann, wenn der Wille da ist.»
Eine elegante Erscheinung in blauem Samtanzug löste sich aus einer lauten Gruppe bei der Heckgalerie, und der Admiral erklärte:
«Sehen Sie diesen Herrn dort, Bolitho? Das ist Sir George Helpman aus London. «Seine Lippen schürzten sich ein wenig.»Ein „Experte" für unsere Malaise hier, eine wichtige Persönlichkeit, auf die alle hören sollten.»
Plötzlich war er wieder Admiral.»Amüsieren Sie sich gut, Bo-litho, lassen Sie sich reichen, was Ihnen zusagt. Das Essen ist heute ausgezeichnet!»
Er wandte sich ab, und Bolitho sah, wie er den Mann aus London begrüßte, den er nicht sonderlich zu mögen schien. Sein Hinweis hatte fast wie eine Warnung geklungen, obwohl Bolitho nicht ganz einsah, was ein Leutnant wie er damit zu tun haben sollte.
Er dachte über Coutts nach, der keineswegs dem Bild entsprach, das er sich von ihm gemacht hatte. Schon jetzt empfand er für den Admiral Bewunderung und Loyalität, wenn er sich das auch nach diesen wenigen Minuten des Kennenlernens selbst noch nicht eingestehen wollte.
Es wurde schon dunkel, als die Gäste aufbrachen. Einige waren so betrunken, daß man sie in ihre Boote tragen mußte, andere torkelten mit gläsernem Blick allein zum Fallreep, vorsichtig jeden Schritt erzwingend, um sich keine Blöße zu geben.
Bolitho wartete und beobachtete vom Achterdeck, wie die Gäste hinuntergeleitet, einige auch mit Taljen über die Reling gehievt und in die längsseits liegenden Boote gefiert wurden.
Er kam an einer Kabine vorbei, deren nicht ganz geschlossene Tür einen kurzen Blick ins Innere ermöglichte. Eine kichernde Frau hatte die nackten Arme um den Hals eines Offiziers geschlungen, der ihr das Kleid abstreifte. Ihr Mann oder Begleiter lag womöglich betrunken in einem der Boote, dachte Bolitho und lächelte. War er schockiert, war er neidisch? Er wußte es selber nicht.
Ein Bootsmaat rief eifrig:»Ihr Kommandant kommt, Sir!»