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Bolitho starrte auf die verschlossene Tür, hinter der er Stimmengewirr und trunkenen Gesang hörte. Er wartete noch ein wenig, dann zog er seinen Dolch und schlug mehrmals mit dem Knauf gegen die Tür, wobei er mit lauter Stimme rief:»Im Namen des Königs — öffnet!»

Drinnen hörte man Getrappel und unterdrückte Schreie, das Splittern von Glas und einen schweren Fall, als sei jemand, der zu fliehen versuchte, von Stockdales Knüppel getroffen worden.

Plötzlich sprang die Tür auf, aber an Stelle der erwarteten Menschenmenge sah sich Bolitho einer Riesin gegenüber, vermutlich der berüchtigten Lucy. Sie war so groß und breit wie ein Seebär und benutzte auch dieselben unflätigen Ausdrücke, als sie jetzt drohend die Faust erhob.

Lichter flammten ringsum auf, und aus den Fenstern beugten sich

Gestalten, die gierig auf die Szene herabstarrten und sehen wollten, wie Lucy die Marine in die Flucht schlug.

«Du pickeliger, grüner Lausejunge, wie kannst du behaupten, ich hätte hier Deserteure versteckt?«Sie stemmte die Arme in die Hüften und funkelte Bolitho wütend an.

Andere Frauen, einige halbnackt, hasteten die wackelige Treppe im Hintergrund herunter, um zu sehen, was sich abspielte. Ihre bemalten Gesichter glühten vor Aufregung.

«Ich tue meine Pflicht. «Bolitho widerte das höhnische und verächtliche Benehmen der Frau an.

Stockdale tauchte mit grimmiger Miene hinter ihr auf und keuchte:»Wir haben sie, Sir: Sechs, wie er gesagt hat.»

Bolitho nickte. Stockdale hatte also den hinteren Ausgang gefunden.

«Gut gemacht!«Mit plötzlichem Ärger fügte er hinzu:»Wenn wir schon hier sind, wollen wir uns doch gleich mal nach weiteren,unschuldigen' Bürgern umsehen.»

Lucy packte ihn unvermutet an den Rockaufschlägen und schürzte die Lippen, um ihm ins Gesicht zu spucken. Aber im nächsten Augenblick sah Bolitho nur nackte, strampelnde Beine und gewaltige Oberschenkel, als Stockdale die schreiende und fluchende Person die Stufen zur Straße hinunter trug. Ohne Umschweife steckte er ihren Kopf in einen Pferdetrog und hielt ihn mehrere Sekunden unter Wasser.

Als er sie losließ und sie taumelnd nach Atem rang, sagte er:»Wenn du noch einmal so zu dem Leutnant sprichst, meine Schöne, bekommst du meinen Dolch zwischen die Rippen, verstanden?«Dann nickte er Bolitho zu:»Alles in Ordnung, Sir!»

Dieser schluckte. Noch nie hatte er Stockdale so wütend erlebt.»Danke!«Er sah, wie sich seine Leute grinsend anstießen, und kämpfte um sein altes Selbstvertrauen.»Fangt an mit dem Durchsuchen!«Hinter ihm wurden die sechs Deserteure vorbeigeführt, einer von ihnen hielt sich den Kopf.

Aus einem Nachbarhaus schrie jemand:»Laßt sie doch laufen, ihr Stinktiere!»

Bolitho trat ein und besah sich die umgestürzten Stühle, leeren Flaschen und verstreuten Kleidungsstücke. Es sah eher aus wie in einem Gefängnis als wie in einem Freudenhaus.

Jetzt wurden zwei weitere Männer die Treppe heruntergeschafft, einer entpuppte sich als Hummerfischer, der andere protestierte laut und behauptete, er sei überhaupt kein Seemann. Bolitho musterte die Tätowierungen auf seinen Armen und sagte ruhig:»Ich rate dir, den Mund zu halten. Wenn du von einem Schiri des Königs bist, wie ich vermute, wäre Schweigen für dich gesünder. «Der Mann wurde so blaß unter seiner Bräune, als hätte er bereits die für ihn bestimmte Schlinge des Henkers gesehen.

Ein Seemann polterte die Treppen herunter.»Das ist alles, Sir, außer diesem Knaben hier.»

Bolitho sah, wie der Junge durch die Reihe der starrenden Mädchen hindurchgeschoben wurde, und entschied sich gegen ihn. Vielleicht war er jemandes Sohn, der in dieser trüben Spelunke ein erstes aufregendes Erlebnis gesucht hatte.

«Gut. Rufen Sie die anderen!«Er betrachtete den schmalschult-rigen Jungen, der mit niedergeschlagenen Augen im Schatten stand.»Das ist kein Ort für dich, Kerlchen. Verschwinde, bevor etwas Schlimmeres passiert. Wo wohnst du?»

Als keine Antwort kam, streckte Bolitho die Hand aus und hob des anderen Kinn an, so daß das Lampenlicht voll auf das verängstigte Gesicht fiel.

Bolitho stand einen Augenblick wie versteinert. Dann ging alles sehr schnell. Der Bursche duckte sich und rannte aus der Tür, bevor sich jemand bewegen konnte.

Ein Seemann schrie: «Haltet den Mann!»

Vor dem Haus hörte Bolitho die Soldaten rufen. Er lief hinaus.»Wartet!«Aber es war schon zu spät. Der Knall einer Muskete hallte wie Kanonendonner in der engen Gasse.

Er ging an seinen Leuten vorbei und beugte sich über die ausgestreckte Gestalt, während ein Korporal der Infanterie herbeieilte und den Körper auf den Rücken rollte.

«Er wollte Ihnen weglaufen, Sir!»

Bolitho kniete nieder, knöpfte die grobe Jacke und das Hemd auf und legte die Hand auf die schmale Brust. Das Herz schlug nicht mehr, überall war Blut. Die Haut, so zart wie vorher das Kinn, war noch warm, und die toten Augen starrten ihn anklagend aus der Dunkelheit an.

Er erhob sich, ihm war übel.»Es ist ein Mädchen.»

Dann wandte er sich um und rief:»Diese Frau, bringt sie her!»

Die» Lucy «genannte Person trat näher und rang die Hände, als sie die leblose Gestalt erblickte. Mit ihrer Arroganz war es vorbei. Bolitho konnte ihre Angst beinahe riechen.

«Wer war sie?«fragte er, erstaunt über den harten Ton seiner Stimme, die ihm selbst fremd klang.»Ich frage kein zweites Mal, Frau!»

Mehr Lärm erfüllte die Straße, und zwei Berittene galoppierten durch die Heerespatrouille.»Was, zum Teufel, geht hier vor?«bellte eine Stimme.

Bolitho berührte grüßend seinen Hut.»Offizier der Hafenwache,

Sir!»

Der Fragende war ein Major, der dieselben Abzeichen trug wie der Unteroffizier, der das Mädchen erschossen hatte.

«Oh, verstehe. Also dann. «Er stieg ab und beugte sich über die Leiche.»Die Lampe, Korporal!«Die Hand unter dem Kopf des Mädchens, drehte er dessen Gesicht dem Licht zu.

Bolitho war außerstande, den Blick vom Gesicht der Toten abzuwenden.

Endlich stand der Major auf.»Schöne Bescherung, Leutnant!«Er rieb sich das Kinn.»Es ist wohl besser, wenn ich den Gouverneur wecke. Er wird nicht sehr erfreut sein.»

«Wer war sie, Sir?»

Der Major schüttelte den Kopf.»Was Sie nicht wissen, kann Ihnen nicht schaden. «Dann, in verändertem Ton zu dem zweiten Reiter:»Korporal Fisher! Reiten Sie zur Kommandantur und wek-ken Sie den Adjutanten. Er soll mit einem Zug Soldaten sofort herkommen. «Er beobachtete, wie der Korporal losjagte, und fügte hinzu:»Dieses verdammte Haus wird jetzt geschlossen und bewacht, und Sie«, sein weißbehandschuhter Zeigefinger schoß vor und deutete auf die zitternde Lucy,»sind festgenommen!»

Jammernd sank sie fast zu Boden.»Wieso ich, Sir? Was hab' ich denn verbrochen?»

Der Major trat zur Seite, als zwei Soldaten herbeiliefen und Lucys Arme packten.»Verrat, Madam, das haben Sie verbrochen!»

Etwas ruhiger wandte er sich Bolitho zu.»Ich schlage vor, daß Sie weitermachen, Sir. Ohne Zweifel werden Sie noch mehr über diesen Vorfall hören.«Überraschenderweise lächelte er kurz.

«Wenn es ein Trost für Sie ist: Sie sind da auf etwas wirklich Wichtiges gestoßen. Zu viele gute Leute sind schon Verrat zum Opfer gefallen. Aber hier liegt jemand, der nie mehr Verrat üben wird.»

Bolitho ging schweigend zum Hafen zurück. Der Major hatte das tote Mädchen erkannt, und nach der Feinheit ihrer Glieder, der Glätte ihrer Haut zu urteilten, stammte sie aus guter Familie.

Er versuchte sich vorzustellen, was in dem Haus vor sich gegangen war, bevor er und seine Leute dort eingedrungen waren; aber alles, woran er sich erinnern konnte, waren ihre Augen, mit denen sie ihn angeblickt hatte, als sie beide die Wahrheit begriffen.

VII Hoffnungen und Ängste

Bolitho ging ein paar Schritte auf und ab, wobei er versuchte, im Schatten des großen Besansegels zu bleiben. Es herrschte drückende Hitze, und die leichte Brise, die über das Achterdeck der Trojan wehte, brachte keinerlei Kühlung.