Herbert W. Franke
Zone Null
Science-Fiction Roman
Der Autor
HERBERT W. FRANKE wurde am 14. Mai 1927 in Wien geboren. Er studierte dort Physik, Chemie, Mathematik, Philosophie und Psychologie und promovierte 1950 zum Dr. phil. Bis 1957 war er in einer Presseabteilung der Industrie tätig. Seit 1957 lebt er als freiberuflicher Schriftsteller in der Nähe von München. Er ist nicht nur ein bekannter Sachbuchautor und – herausgeben er hat sich auch als Höhlenforscher einen Namen gemacht. Darüber hinaus zählt er zu den wenigen deutschen Science-Fiction-Autoren von Rang.
Copyright
ZONE NULL
Science-Fiction - Roman
von
Herbert W. Franke
Kindler Verlag
© Copyright 1970 by Kindler Verlag GmbH, München
Redaktion: W. Jeschke
Korrekturen: R. Nickel
Fotografik: W. Baum
Gesamtherstellung: Druckerei Ludwig Auer, Donauwörth
Printed in Germany
e-Book by Brrazo 07/2009
H. W. Franke
Zone Null
Das Glas der Kabinenfenster war mit weißer Farbe überstrichen, aber die meisten kratzten sie heimlich weg. Zuerst gab es wenig zu erkennen. Sie waren am Rand des bewohnten Distrikts gestartet, der Schein der Beleuchtungssatelliten drang nur streifend durch die schwarzen Schwaden des Smogs. Graue Rechtecke, tiefe Schattenlöcher darin, da und dort ein unbestimmtes Glitzern.
Dann stiegen sie höher, tauchten von unten in die trägen Massen, starrten ins wirbelnde Dunkel, nur gelegentlich ein Blick in einen Nebelabgrund mit zerfressenen Rändern – dann plötzlich riß der flatternde dunkle Vorhang auf, und über ihnen strahlte der Nachthimmel mit unzähligen Lichtpunkten: die Sterne, von den Lehrprogrammen her gut bekannt, gelegentlich in Planetarien bewundert, und doch erstaunlich. Nirgends waren sie so beschrieben, wie sie wirklich waren, nirgends so gezeigt.
Das Meer des Smogs wogte tief unter ihnen. Allmählich wurden die Schwaden dünner, bildeten Wirbel, Löcher. Unten ahnte man es mehr, als man es sah: das unbekannte Land.
Dort unten, irgendwo mußte die Grenze liegen. Keine Befestigungen mehr, Gräben, Drahtverhaue, Wachttürme, keine Panzersperren, Mauern, kein eiserner Vorhang. Nicht viel mehr als eine gedachte Linie. Doch die Sperre war absolut, die Befestigung unüberwindlich. Radar, Seismographen, versteckte Fernsehkameras, dahinter der Ring der Raketenbasen. Vielleicht auch andere Kontrollen, andere Waffen, wer wußte es? Es war gespenstisch, wie sie jetzt so einfach darüber hinwegflogen.
Gegen Morgen erlebten sie ein Schauspiel, wie es sonst nur die Lehrfilme bieten: Die Sterne verblaßten, der Himmel überzog sich mit milchigem Rosa, und dann stieg der Sonnenball über den Horizont, viel heller als die blasse Scheibe, die tagsüber durch den Dunst erkennbar war, gleißender sogar als die Beleuchtungssatelliten bei voller Intensität. Jetzt wanderte unter ihnen die Landschaft dahin – ein Muster aus Weiß, Grau und Schwarz, Anflüge von Grün – aufkeimende Pflanzen inmitten der Asche, dazwischen Kreise aus Ocker, Krater, aufgewühlte Erde, Lehm. Ein spiegelndes Adernetz, ein Fluß, in Hunderte Arme gespleißt, daneben eine endlose graue Gerade – das drainierte Bett, jetzt trocken; Berge aus aufgeworfenem Gestein hatten es in seinem Oberlauf gesperrt, und der Strom hatte sich neue Wege gebahnt. Die Zone Null.
Jetzt kippte der Boden, die Motoren sangen höher, der Rumpf des Transporters vibrierte; der Pulk schwenkte ein, folgte den spiegelnden Wasserfäden. Rechts und links Hügelketten, lange Schatten daneben, dann wieder Ebene, Spuren alter Bebauung, eine Zeichnung aus Strichen und Kurven, einst Straßen, Schienen, dort das Skelett einer Brücke, Trümmerhaufen, einst Dörfer und Städte, Abschußrampen, unbeschädigt, aber leergefegt. Und dann schob sich eine unübersehbare gelb und grau gesprenkelte Fläche heran, riesig und leer, die bald das gesamte Gesichtsfeld einnahm.
Eine Stunde noch. Langeweile, trotz der Erwartung, Flug über das Nichts. Die Soldaten in ihren schweren Ausrüstungen rückten hin und her, eine leise Unterhaltung kam auf, dazwischen lautere Worte, Scherze...
Bis der Lautsprecher die nächste Phase einleitete.
Helme aufsetzen, Funkgeräte einschalten! Gesichtsklappen schließen! Lehnen aufrecht stellen! Köpfe an die Knie! Hände an den Nacken!
Schleusentüren schließen! Landefähre ab!
Es ruckte kurz, der Magen hob sich, das Gefühl des Schwebens... das Aufheulen der Gleitflügel, der sanfte Andruck wie im Lift, einige mühsame Atemzüge lang. Dabei, etwas unangenehm, das Warten auf die Landung – würden sie gut aufsetzen? Das Ganze wie bei einer Übung. War es eine Übung?
Wer noch einen Blick durch die freigekratzten Fenster geworfen hatte, konnte vorn rechts ein matt blinkendes Gebilde erkennen – wie Schaum, der auf Wasser liegt. Unten war nichts mehr davon zu sehen.
Er war zurückgekommen – wie geplant.
Er hatte damit gerechnet, daran geglaubt und daran gezweifelt. Er hatte darauf gehofft und sich davor gefürchtet. Er hatte es sich ausgemalt: das Wiedersehn, die vertraute Umgebung, die Glückwünsche und Ehrungen, und dann die lange, verheißungsvolle Arbeit – die Auswertung der Daten. Das war die selbstverständliche Folge der Schritte im Programm.
Und jetzt verstand er das Selbstverständliche nicht. Er fühlte sich nicht so, wie er es erwartet hatte, war weder ruhig noch sicher, weder stolz noch zufrieden.
Durch die Kunststoffscheiben blickte er in die Umgebung. Es hätte eine Garage sein können, ein Hangar, eine leere Sporthalle. Irgendwo über ihm, außerhalb seines Gesichtsfelds, brannte trübes Dauerlicht. Die Schatten in den Ecken wirkten wie kantige Löcher. Vor der Rolltür saß ein Posten auf einem Schemel, die MP auf den Knien.
Sie hatten ihm einen Käfig gebaut, ein Plastikgehäuse, einen Palast aus synthetischem Glas, eine Suite von Zellen, viel zu groß für ihn, den Arzt und die Krankenschwester.
Vielleicht war es das: daß er allein war. (Sein medizinischer Überwacher und die Schwester zählten nicht. Es waren Nullen. Das Mädchen war blond und aufreizend hübsch, Pflegerin und Sekretärin. Sie umsorgte ihn mit penetranter Unterwürfigkeit. Der Arzt hatte angedeutet, sie wäre nicht abgeneigt, mit ihm zu schlafen – wenn er diesen verständlichen Wunsch verspürte, nach der langen Expedition...) Pavel, Greg, Josef, Tibor und Sonja; er versuchte, jeden einzelnen des Teams aus der Erinnerung heraus lebendig werden zu lassen, aber sie blieben Schemen. Der Schleier, der vor den Dingen lag, umfaßte auch die Gestalten der Vergangenheit. Er war nicht so traurig darüber, ohne die anderen zurückgekommen zu sein, wie er es hätte sein müssen. Nein, daran lag es nicht. Er stieß die Illustrierten beiseite, die Sportzeitschriften, Magazine und Rätselhefte, die sie ihm immer wieder auf den Tisch schoben. Am liebsten hätte er sie zerfetzt oder an die Wand geworfen, aber dann käme der Arzt angerannt, und das blonde Flittchen, und sie würden ihn wieder martern – EKG, Pulsschall, EEG, Blutsenkung, Urin, Gewebeproben; sein Körper war mit Pflästerchen bedeckt, überall dort, wo sie ihm Haut, Muskelfleisch, Knochen entnommen hatten. Sie beobachteten ihn unablässig, beim Wachen, im Schlaf, beim Lesen, Essen, ja selbst auf der Toilette; sie sammelten seine Fäkalien und durchsuchten sie mit ihren Mikroskopen. Sie waren nicht zufrieden mit ihm, weil er sich anders verhielt als ein Held, und sie suchten den Grund in der Verdauung.
War er ein Held? Das Wort lag außerhalb seines Begreifens. Der Ministerpräsident hatte ihn so genannt, der Oberbefehlshaber der Luftstreitkräfte hatte ihm einen Orden überreicht. Die Niederlage wurde zu einem Sieg umfunktioniert. Kadetten hatten Fahnen geschwenkt, und einer von ihnen hatte einen Absatz aus dem Basaltext vorgelesen: