Er richtete sich auf, schwenkte die Beine über die Kante, setzte die bloßen Füße auf die gewärmten Fliesen. Leise, um seine beiden Mitbewohner nicht zu wecken, stand er auf und trat ans Fenster. Ein plattes Gesicht starrte ihm entgegen, sein Spiegelbild? Plötzlich verschwamm es, ein paar Schritte, hohl und laut, draußen der Posten, nun wieder weiter entfernt... er hielt seine Maschinenpistole umkrampft, zog sich Schritt für Schritt zurück...
Schon jetzt war Dan kein Mensch mehr. Er war ein Monster, das man heimlich im Schlaf beobachtet, das einem das Gruseln lehrt, selbst wenn es im Käfig sitzt, dem man zutraut, daß es andere anspringt, zerfleischt, auffrißt, das auf unbegreifliche Art Einfluß ausüben kann, verzaubert, behext, entseelt, Scheusal, Gott, Golem, Mißgeburt, Ungetüm... man sollte ihrem Willen entsprechen, sollte ihnen geben, was sie erwarteten, sollte ihnen die Panik in die Knochen jagen, das Grauen ins Gehirn...
Dan brach in Gelächter aus, als der Posten weglief, sich in die finsterste Ecke zurückzog. Dann erst merkte er den Grund: Er ertappte sich dabei, daß er das Gesicht an die Scheibe preßte und Grimassen schnitt, die Lippen verzog, die Zunge herausstreckte, die Augen rollen ließ, die Wangen aufblies...
Er taumelte zum Lager zurück und versank in ein dumpfes Brüten.
Schlafen, traumlos schlafen...
Doch sobald er die Augen schloß, wurden die Erinnerungen lebendig. Irgend etwas rief den Speicherinhalt seiner Gehirnzellen an, ohne daß er sich dagegen wehren konnte. Es strömte, verwirrend, chaotisch, überflutete ihn, ertränkte ihn...
Nachwirkung der Pharmaka?
Folge der Verhöre?
Vielleicht kam es nur vom Nichtstun, von der Leere seines Daseins. Müdigkeit, Überdruß, Langeweile... Vielleicht war es die Hoffnungslosigkeit. Er hatte keine Zukunft – was sollte er erwarten? Er hatte keine Aufgabe mehr und sah kein Ziel.
Er hatte diese Leere schon einige Male kennengelernt – es war nicht sein erster Einsatz gewesen. Wenn alles vorbei war, die Besetzung, die Analyse, die Übernahme der Kontrollen, die Umschulung, die Eingliederung, dann hatte er sie gefühlt. Ein Ziel zu erreichen ist immer ein Verlust. Man muß ihn hinnehmen, versuchen, sich wiederzufinden, sich einzugliedern in neues funktionelles Geschehen, ohne das man nackt und hilflos ist.
Er hatte sie gefühlt, aber nur für kurze Zeit. Es gab weitere Aufgaben, ja eigentlich war alles nur Vorbereitung auf die eine große Aufgabe.
Sie begannen immer wieder von vorn. Unterricht, Training, Berechnungen, Simulationen, Prüfungen, Diskussionen, Programme. Die Isolierung. Der Countdown. Besetzung, Analyse, Übernahme der Kontrollen, die Umschulung, die Eingliederung. Rückkehr, die Pause, in der die Langeweile wächst und die Ungeduld. Eine neue Aufgabe...
Sie hatten Erfolg gehabt.
Stets geht alles glatt.
Alles ist erprobt.
Durch Simulationen geprüft.
In Planspielen vorbereitet.
Die Programme sind fehlerlos.
Enthalten alle Möglichkeiten.
Sind auf Unwahrscheinlichkeiten eingestellt.
Beziehen selbst das Unvorhersehbare ein.
Die Entscheidungen sind zwingend
die Urteile begründet
die Risiken kalkuliert
die Rechnungen korrekt
die Systeme transparent
die Funktionen überschaubar
die Methoden effektiv
die Resultate vorhersehbar
Störungen werden beseitigt
Widerstände gebrochen
Mißerfolg ist ausgeschlossen
Das schwächste Glied der Kette ist der Mensch.
Das schwächste Glied der Kette ist der Mensch.
Doch der Mensch ist flexibel anpassungsfähig fähig zu lernen kann sich entwickeln
Unzulänglichkeiten ablegen
Widerstand aufgeben
Emotionen unterdrücken
Reflexe beherrschen
Impulse drosseln
sich in den Griff bekommen
Wir führen Sie – zur Perfektion
Wir schulen Sie
Wir beseitigen Ihre Schwächen
Wir schalten Ihre Instinkte aus
Wir legen eine Basis nutzvoller Motivationen an
Wir lehren Sie Objektivität
Wir lehren Sie Sachlichkeit
Wir lehren Sie das kühle Denken
Wir befreien Sie von überalterten Denkgewohnheiten
Wir befreien Sie von anarchischen Trieben
Wir befreien Sie von menschlichen Bindungen
Wir stellen Ihnen eine Aufgabe
Wir setzen Ihnen ein Ziel
Wir geben Ihrem Dasein Sinn...
Dan zuckte zusammen, horchte auf. Die Augen waren ihm zugefallen, er war eingenickt. Sein Körper brauchte Erholung, aber seine Gedanken kamen nicht zur Ruhe, quälten ihn, ängstigten ihn, verwirrten ihn. Er grübelte, versuchte die Bilder zu ordnen, durchforschte sich selbst – sachlich, wie er es gelernt hatte, kühl, kritisch, auch im Stress... er und die Mitglieder des Teams, sie waren perfekt geschult, beherrschten die Routinen, hatten sich in der Gewalt, kannten ihre Fähigkeiten, wußten ihr Instrumentarium zu gebrauchen, hatten stets einen Katalog heuristischer Methoden zur Hand, wenn die Bestimmungsstücke zur Lösung der auftretenden Probleme fehlten.
Konnte es Probleme geben, vor denen sie versagten? Fragen, die nicht ins Schema paßten? Aufgaben, die sie überforderten?
War Perfektion relativ?
Gab es noch unbekannte Denkbereiche?
War ihr Wissen unzureichend?
Hatten sie sich getäuscht?
Wieder ertappte sich Dan bei unsachlichen Gedankensprüngen, beim Abirren in einen Dschungel abstruser Vorstellungen, bei unkontrollierten Emotionen.
Was war es, was ihn so hoffnungslos verwirrte?
Er sammelte sich, konzentrierte sich auf einen Punkt.
Was war es, was da in ihm Raum gewann, ihm die Herrschaft über sich selbst streitig machte?
Zweifel, ein schlechtes Gewissen...?
Es dauerte lange, bis er es einsah, denn er hatte das Zweifeln verlernt. Die Ausbildung, die Lehrprogramme, die Politgespräche, die Psychostabilisation, das autogene Training – alles das hatte den Zweck gehabt, Sicherheit zu geben, Zweifel zu beseitigen. Und nun war das Gerüst, an dem er stets Halt gefunden hatte, unversehens zusammengebrochen, und er suchte in den Trümmern nach Anhaltspunkten.
Das war es: Er zweifelte.
Als er das einsah, öffneten sich Abgründe, und die Sprünge liefen bis in die fernsten Winkel des Gebäudes seiner Überzeugungen.
Waren die Besetzungen begründet gewesen?
Hatten sie den Einwohnern Gutes gebracht?
War ihre Aufgabe sinnvoll?
War die Freie Welt wirklich frei?
Waren ihre Ideale richtig?
Und wenn das nicht so war – was blieb?
Sie saßen wieder in ihren Fahrzeugen, steckten in den schweren Anzügen, schwitzten, schaukelten mit dem trägen Fahrzeug auf den Kissen der Ballonreifen. Die Kolonne fuhr vor ihnen und zog eine Staubfahne hinter sich her. Die Funksignale sangen ihre eintönige Melodie, einschläfernd, aber nicht beruhigend.
Plötzlich Paveclass="underline" »Halt an!«
Josef zögerte, doch Pavel bat: »Seht – was ist das? – dort drüben!«
»Wir sollten nicht zurückbleiben!«
»Nur einen Augenblick – das möchte ich mir ansehen!«
Pavel öffnete die Tür und ließ sich hinuntergleiten. Schwerfällig tappte er durch den Sand.
Es war so etwas wie ein schwarzer Stab, der dort im Grus steckte, an seinem oberen Ende eine Bewegung, ein gedämpftes Blinken.
»Schalt den Geigerzähler ein!«
»Schon geschehen.«
Erst lief Pavel zielbewußt auf die Stelle zu, eine flache Erhebung in etwa dreißig Metern Entfernung, dann plötzlich zögerte er, blieb stehen, alle sahen es: Der Stab war nicht mehr da.