Ludger ließ sich davon nicht beirren. Für ihn war eine Auseinandersetzung erst dann beendet, wenn er den Gegner auf seine Seite gezogen hatte.
»Bei allem Respekt, verehrte Schwägerin«, widersprach er Cathrin. »Thilo hätte besser daran getan, die Last der Verantwortung auf mehrere Schultern zu verteilen.«
»Zu viele Köche verderben den Brei«, gab Cathrin patzig zurück.
Ganz und gar nicht wie die abgeklärte Geschäftsfrau, die sie sein wollte. Trotzdem sah sie voller Genugtuung, dass sie Ludger an seinem empfindlichsten Punkt getroffen hatte, seiner Eitelkeit.
»Mit Verlaub, das sehe ich anders. Ein zusätzlicher Mann in der Geschäftsführung hätte der Firma mehr als gutgetan.«
Daher wehte der Wind also: Ludger hatte selbst auf Thilos Anteile gehofft. Das Testament hatte Katya mit einem Schlag doppelt so reich, doppelt so mächtig gemacht, wer hätte nicht an ihrer Stelle sein wollen.
»Du wirst doch ohnehin bald Vaters Position übernehmen«, entgegnete Cathrin.
»Was er sich auch mehr als verdient hat«, warf Jette ein.
»Das stelle ich doch auch gar nicht in Abrede«, wehrte Cathrin ab. »Es geht mir nur darum …«
»Weißt du«, schnitt Jette ihr das Wort ab, »du solltest solche Dinge denjenigen überlassen, die etwas davon verstehen.«
»Ich bin mit dem Geschäft groß geworden«, verteidigte sich Cathrin. »Von klein auf war ich mit Thilo im Kontor, mit Grischa auf den Schiffen und in Zollbüros. Ich habe mit Katya unser Eis in Norwegen geholt und sogar die Webereien und Manufakturen in Indien besucht. Das ist weitaus mehr, als Ludger von sich behaupten kann.«
»Ein nettes Steckenpferd«, erwiderte Jette geschmeidig. »Aber vollkommen nutzlos. Du hättest dich lieber mal mit Nadelarbeiten beschäftigt oder um sonstige hausfrauliche Fertigkeiten bemüht. Dann würdest du nicht immer noch am Rockzipfel von Papa und Mama hängen. In deinem Alter.«
Cathrin kümmerte es herzlich wenig, ob sie verheiratet war oder nicht; dass Jette, durch und durch Tochter ihrer Mutter, es ihr bei jeder Gelegenheit unter die Nase rieb, hingegen schon. Die zwölf Jahre, die sie trennten, hatten sich über die Zeit zu einer Kluft zwischen Generationen ausgedehnt. Unvereinbare Vorstellungen und Werte, an denen sie sich wie Streichhölzer rieben und genauso leicht entzündeten.
Schweigend verfolgte Christian Petersen den hitzigen Wortwechsel der beiden, einmal mehr erstaunt über diese drei so unterschiedlichen Töchter, die aus ihm und Henny hervorgegangen waren. Jette in ihren Farben von Milch und Honig, die mit Ende dreißig gerade in voller Blüte stand. Verwöhnt, aber diszipliniert und dazu noch scharfsinnig, selbstbewusst in ihrer Ehe wie der Mutterschaft. Marie, dieses versponnene Elfenkind, für das sie einen sicheren Hort geschaffen hatten, in dem sie aufblühen und ihrer künstlerischen Begabung nachgehen konnte.
Und Cathrin.
Aus einer Laune der Natur heraus war sie äußerlich ganz nach Thilo, seinem Bruder, geraten. Die Erbanlagen eines gemeinsamen Vorfahren, durch Christian an sie weitergegeben. Das Haar so hell, dass es fast weiß war, und so seidig, dass keine Brennschere, kein noch so kunstfertiger Kniff mehr als einen schlichten Knoten zustande brachte; ein ewiger Kummer für Henny. Die Augen kühle Kiesel unter Brauen und Wimpern wie Raureif, die Züge eine verfeinerte Version von Thilos, geradlinig und schnörkellos. Wie aus demselben blassen Stein geschnitten und zu lebendiger Leuchtkraft poliert.
In diesen Tagen tat es weh, in ihrer Nähe zu sein, so ähnlich sah sie ihm.
Christian wollte die Augen davor verschließen und konnte es nicht. Sobald er die Lider auch nur senkte, tauchte dahinter Thilos brutal zerschundenes Gesicht auf, schon kalt und tot.
Gestern erst, so kam es ihm vor, waren sie noch zwei Jungen gewesen, die vor dem Gemischtwarenladen ihrer Eltern am Kehrwieder umhertollten, und nun war nur noch er selbst übrig, tiefe Linien unter den Augen und das Haupt wie von Asche bestäubt.
Sechzig Jahre lang, ein Menschenalter, hatte Thilo ihn auf seinem Lebensweg begleitet. Ein großer Bruder im besten Sinne, auf nüchterne Weise fürsorglich. Von jeher stärker, reifer, vernünftiger; ein Bleistiftstrich am Türrahmen, an dem Christian sich stets gemessen hatte, bewusst oder nicht. Auseinandergetrieben von ihren unterschiedlichen Charakteren, war Thilo dennoch eine feste Größe in seinem Leben geblieben; ein zutiefst vertrauter Fremder, auf den Christian manchmal neidvoll schielte.
Wenn schon ein Mann wie Thilo, baumstark und von besonnenem Gemüt, ein Opfer roher Gewalt werden konnte, wie viel zerbrechlicher war dann ihrer aller Dasein? Über Nacht war die Welt zu einem Ort des Schreckens geworden. Voller unsichtbarer Gefahren, vor denen Christian seine Familie schützen wollte. Allen voran Cathrin. Um sie sorgte er sich am meisten, und gerade sie war die Letzte, die sich in Watte packen ließ.
In Cathrins ersten Lebensmonaten hatten sie befürchtet, nach Marie ein zweites Muschelkind bekommen zu haben, so viel schrie sie. Das Gegenteil war der Fall.
Cathrin schrie, weil sie ihren Hunger nach dem Leben nicht gestillt bekam. Unersättlich war ihre Gier danach; mit beiden Händen packte sie, was sie zu fassen bekam, und stopfte es sich in den Mund, um es mit allen Sinnen in sich aufzunehmen. Kopfüber stürzte sie sich in diese neue und aufregende Welt, ungeachtet aller Schrammen und Beulen, die sie sich dabei holte. Jede beschützend ausgestreckte Hand schlug sie beiseite und brüllte in der Sicherheit des Laufgitters stundenlang wie am Spieß.
Zu wild, zu eigensinnig war sie, als dass Christian und Henny sie hätten bändigen können, nicht einmal mit der Hilfe der resoluten Kinderfrau. Nicht neben Jette, die an der Schwelle zum schwierigen Backfischalter stand, nicht mit den Anforderungen, die Marie jeden Tag an sie alle stellte.
Besonders Hennys Nerven lagen allzu bald blank.
Einmal, kurz vor Cathrins erstem Geburtstag, war Christian dazugekommen, wie Henny das Kind anschrie und schüttelte. Beide im Schock, nachdem die Kleine, nur einen Wimpernschlag lang aus den Augen gelassen, sich am Bein einer Konsole hochgezogen hatte und die Vase darauf um Haaresbreite an ihrem Kopf statt auf dem Boden zerschellt wäre. Der vorläufige Höhepunkt eines permanenten Kriegszustands, der weder Henny noch Cathrin weiter zuzumuten war.
Kurzerhand hatte Christian seine wutstrampelnde Tochter unter den Arm geklemmt und war nach Teufelsbrück hinausgefahren. Obwohl er wusste, dass das Haus dort im Umbau war, die gerade erst gekittete Ehe von Katya und Thilo noch fragil; er hatte sich nur nicht anders zu helfen gewusst.
Wie ein Äffchen hatte Cathrin sich an Katya geklammert und schutzsuchend den Kopf an ihre Brust gedrückt. Mit einer zu Hause kaum je gezeigten Zutraulichkeit, die Christian ins Herz schnitt. Erst als Katya ihm mit leuchtenden Augen zugenickt, ihn sogar sacht an der Schulter berührt hatte, wie zum Trost, konnte er aufatmen.
Bis heute plagten ihn Schuldgefühle, dass er damals seine Tochter weggegeben hatte. Sie als das Kind von Katya und Thilo aufwachsen zu sehen, über die Jahre nur zu Besuch im eigenen Elternhaus, für einen Tag, einige Wochen, mehrere Monate, schmerzte noch immer.
Bereut hatte er es nie.
Das Gespräch am Tisch hatte sich wieder der Firma zugewandt, wie so oft. Petersen & Voronin war nicht nur das Wurzelwerk, das die Familie ernährte, es erstreckte sich auch bis in den letzten Winkel ihres Daseins. Im Grunde ihres Wesens waren sie alle Hamburger Händlerseelen, fasziniert von der Dynamik aus Angebot und Nachfrage. Süchtig nach dem Wettbewerb, dem nächsten lohnenden Geschäft, eine gute Bilanz ihr bestes Ruhekissen. Auch das war Thilos Vermächtnis.
Christian beobachtete Cathrin, wie sie leidenschaftlich auf ihrem Standpunkt beharrte und dabei kein Blatt vor den Mund nahm.
Unter der Hege von Katya und Thilo war ein vor Lebensfreude schier platzendes Mädchen aus ihr geworden, dem kein Zaun, kein Baum je zu hoch war, kein Wasser zu tief, aber auch kein Buch zu dick. Eine unerschrockene Reiterin bis heute, die sich von keiner Hürde bremsen ließ. Nie schien es für sie irgendwelche Grenzen zu geben und keinen anderen Herrn und Gebieter außer ihrem eigenen Willen.