Geblieben war jedoch das Gefühl, niemandem auf der Welt näher zu sein als Katya und Thilo. Daraus schöpfte sie jetzt Mut.
»Warum sagt mir niemand, wie er gestorben ist?«
Katya blinzelte auf das Sonnenfunkeln der Wellen hinaus. Wie am Meer war es hier, wo die kleine Flottbek sich in der mächtigen Elbe verlor. In der offenen Weite schienen die Inseln von Finkenwerder und Waltershof ferner, als sie tatsächlich waren, und im Spiel der Gezeiten und des Windes wirkte jedes vorbeiziehende Schiff wie ein Gruß der weiten Welt.
Städter verbrachten hier ihre Sonntage und die Sommerfrische, auf der Suche nach luftiger Idylle. Die überwiegende Zeit jedoch gehörte die Gegend den Fischern und Bauern in den reetgedeckten Backsteinkaten. Den Möwen und Raben, Gänsen und Enten, den Libellen und Schmetterlingen, die sich auf bemoosten Steinen sonnten.
Deshalb hatten Katya und Thilo sich hier niedergelassen, an diesem grünen Rand der Welt. Um wieder Luft holen zu können nach atemlosen Jahren. Damit Ebbe und Flut das forttrugen, was gewesen war.
Nur wenn Nebel heraufzog oder Sturmwolken alles an Licht, an Farbe schluckten, wurde Teufelsbrück seinem Namen gerecht. Ein Schauplatz für Schauermärchen von Geisterschiffen und unheimlichen Wasserwesen, Irrlichtern und verlorenen Seelen, heraufbeschworen von den orakelhaften Rufen der Vögel.
Von einem Aufblitzen auf dem Wasser geblendet, schloss Katya die Augen. Als ob sie jemals hätten vergessen können, dass die Dunkelheit, die sie zu bannen suchten, nie weit entfernt war.
Auf ihrer Wange haftete noch immer ein Hauch von Thilos letztem Kuss. Sie hatte nicht gefragt, wohin er ging, er hatte nichts gesagt. Eine Freiheit, die sie einander in ihrer Ehe geschenkt hatten, jahrzehntelang.
Unmöglich war es, ihn sich als Jäger vorzustellen, der auf der Suche nach leichter Beute durch die Gassen strich. Er war jemand gewesen, der sich in den Schatten hielt, scheu und fast schamhaft. In der bangen Hoffnung auf ein Paar Augen, das seine geheime Sehnsucht widerspiegelte. Auf eine Männerhand, die seine ergriff und ihn mit sich fortzog, um das gegenseitige Begehren zu stillen.
Vielleicht irrte sie auch, und es waren noblere Beweggründe, die ihn in die Neustadt gezogen hatten.
Ein Missverständnis mochte es gewesen sein, das ihn das Leben gekostet hatte. Ein falsches Wort, eine fehlgedeutete Geste, ein plötzlich und unerwartet heftig aufgeflammter Streit. Lust an der Gewalt, Habgier oder schlicht Neid; die Taschen seines teuren Anzugs waren leer gewesen, die Uhr an der Kette abgerissen. Eine blinde und mörderische Wut, gegen die Thilo sich nicht hatte wehren können. Ein Hüne von einem Mann war er gewesen, aber eben schon zweiundsechzig Jahre alt und mit einer empfindsamen Seele.
Das war das Schlimmste. Sich Thilo hilflos und unter Qualen vorzustellen. Die Faustschläge und Tritte, die seine Knochen zersplitterten und Blutgefäße zerrissen, und jenen einen Augenblick, in dem er wusste, dass er nicht mehr lebend davonkommen würde.
Zärtlich strich sie Cathrin über den Kopf.
»Sein Herz war es«, sagte Katya leise, die Stimme brüchig. »Sein großes und immer viel zu weiches Herz.«
Jede Wahrheit hatte ihre Grenzen. Besonders eine Wahrheit, die mehr Fragen aufwarf, als sie beantwortete. Die ohne Gerechtigkeit bleiben würde, ohne Sühne und deshalb keinen Frieden brachte.
Schutzsuchend schmiegte Cathrin sich an Katya. Wie damals, als Christian sie zu ihr gebracht hatte, ihr heller Haarschopf in der Sonne leuchtend wie eine Pusteblume.
Obwohl Katya nie ein Kind in sich getragen, nie eines geboren hatte, war eine Mutter aus ihr geworden. Für Marie, zu Anfang, und für Betje. Für die Mädchen und Jungen, die sie und Thilo bei sich aufgenommen hatten; struppige Nestlinge, ausgehungert im Leib wie in der Seele. Als starke Jungvögel mit glänzendem Gefieder zogen sie wieder in die Welt hinaus, um ein Handwerk zu erlernen oder ein Geschäft zu gründen, selbst Vater oder Mutter zu werden.
Mit Cathrin war es etwas Besonderes gewesen, vom ersten Tag an. Als ob mit ihr wirklich und wahrhaftig ein Teil von Thilo in Katya herangewachsen und gereift wäre. Ein gegenseitiges Erkennen und Verstehen, schon als sie einander zum ersten Mal ins Gesicht geblickt hatten, Cathrin kaum ein paar Stunden alt.
In einstimmigem Schweigen lenkten sie ihre Schritte vom Wasser weg, durch den wilden Rhabarber, dessen weiße Blüten gerade aufbrachen.
»Wie ist es zu Hause?«, erkundigte sich Katya.
Etliche Herzschläge lang war nur das Rauschen der Wellen und der Bäume zu hören.
»Wir haben gestritten«, erzählte Cathrin schließlich widerstrebend. »Wegen der Firma. Vater und Ludger stören sich daran, dass du jetzt Thilos Anteile hältst. Beide sind davon überzeugt, sie hätten eher Anspruch darauf gehabt.«
Ihre Wangen wurden heiß, als sie an ihre eigene Rolle in dieser Auseinandersetzung dachte. Aber wem konnte sie sich sonst anvertrauen, wenn nicht Katya?
»Ich bin um kein Haar besser, genauso ein Aasgeier«, sprudelte sie hervor. »Ich hätte die Anteile genauso sehr gewollt! Ich bin immer davon ausgegangen, dass Thilo sie eines Tages mir überlassen würde.«
Katya nickte. »Er hat auch daran gedacht, sie dir zu vermachen, wir haben oft darüber gesprochen. Aber was glaubst du, was dann erst los gewesen wäre?«
Ein Funke glomm zwischen ihnen auf, von wissender Ironie und fast spitzbübischer Heiterkeit.
Katya fragte sich, ob irgendjemand sonst wahrnahm, wie viel von Christian in Cathrin durchschien, in ihrer Gestik und Mimik, ihrem Wesen.
Als ob sie Einblicke in Christians Kindheit erhielt, so war es gewesen, Cathrin aufwachsen zu sehen, wie sie mit ausgestreckten Händen durch ihre kleine Welt rannte. Durstig nach immer neuen Sinneseindrücken, dem Nervenkitzel eines Abenteuers. Berstend vor einer unbändigen Energie, die genauso viel Freiheit brauchte wie einen sicheren Halt. Etwas, das Christian als kleinem Jungen nicht vergönnt gewesen war, nicht in jener Zeit von Krieg und Not.
Gedankenversunken griff Katya in die Reben des wilden Hopfens, der entlang des Pfads wucherte.
Ein unentwirrbares Dickicht aus Schuld und Wiedergutmachung verband sie mit Christian. Es mit Stumpf und Stiel auszureißen war aussichtslos gewesen, und sobald man den überschießenden Trieben zu Leibe rückte, schlugen auch schon neue aus, mit aller starrsinniger Kraft. Seiner Tochter Wurzeln zu schenken, ohne ihre Flügel zu beschneiden, hatte Katya nicht mit Christian ausgesöhnt. Aber es hatte dieses Dickicht ausgedünnt und bei Katya keinen anderen Nachgeschmack hinterlassen als den von jungen Hopfensprossen, herb und nur leicht bitter.
»Hab etwas Geduld«, bat Katya jetzt, wider besseres Wissen.
»Ich bin fünfundzwanzig«, rief Cathrin aus und zerrte an den Hopfenranken. »Ein Vierteljahrhundert! Und ich habe noch nicht einmal einen Fuß in der Tür.«
»Wir haben die Firma auch nicht an einem Tag gegründet«, mahnte Katya sanft. »Es hat Jahre gedauert, sie zu dem zu machen, was sie heute ist. Für so ein Geschäft braucht man einen langen Atem.«
»Dann gibt es doch erst recht keine Zeit zu verlieren«, erwiderte Cathrin leidenschaftlich. »Lasst es mich doch einfach versuchen. Ich weiß, dass ich es kann!«
Bislang hatten Katya und Thilo die Wünsche Christians für Cathrins Zukunft respektiert, ob es um den Aufenthalt in einem Pensionat für höhere Töchter gegangen war oder um die Rückkehr in ihr Elternhaus. Vor allem Thilo, von jeher harmoniebedürftig und kompromissbereit, war viel an einem guten Verhältnis zu seinem Bruder gelegen. Obwohl auch er es als eine Verschwendung betrachtet hatte, Cathrin nicht in das Unternehmen zu holen.
Auf die Zeit hatte er gesetzt. Nicht ahnend, dass ihm keine mehr bleiben würde.
»Kann ich dich um einen Gefallen bitten?«, fragte Katya.
Cathrin sah sie aufmerksam an.
»Würdest du mich im Kontor vertreten, während ich fort bin? Und auch hier nach dem Rechten sehen? Um diese Jahreszeit gibt es in Haus und Garten viel zu tun, Trude ist bestimmt froh, wenn du sie unterstützt. Wahrscheinlich ist es besser, du bleibst gleich für ein paar Tage. Falls nötig, auch länger.«