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Ein Kribbeln jagte durch Cathrins Adern, als sie daran dachte, dass sie wirklich und wahrhaftig auf dem Weg nach New York waren, dem fernen Zwilling Hamburgs. Und das sollte nur der Anfang sein.

»Wenn wir im Winter wirklich weniger Überfahrten anbieten können«, überlegte sie halblaut, »sollten wir vielleicht darüber nachdenken, stattdessen andere Ziele anzusteuern.«

»Wie eine Rundreise durch das Mittelmeer?«, fragte Jakob, ein kleines Grinsen im Mundwinkel.

Cathrin machte ein vielsagendes Gesicht. »Zum Beispiel.«

Lächelnd sahen sie einander in die Augen.

»Zu neuen Ufern«, raunte Jakob.

»Zu neuen Ufern«, flüsterte Cathrin zurück.

Der Werbespruch, den sie unter die Inserate für ihre Atlantiklinie und auf Prospekte und Plakate drucken ließen, und doch viel mehr als das. Eine Verheißung, der sie vertrauten. Ein Versprechen, das sie einander gaben, jeden Tag aufs Neue.

Jakob legte den Arm um Cathrin, und zusammen blickten sie auf den weiten Ozean voller Träume, der vor ihnen lag.

45

Die Fensterscheibe des Abteils trennte Grischa von der emsigen Betriebsamkeit im Gare de Lyon, wo Menschen umherhasteten, um ihren Zug zu erwischen, vor dem Bahnhof einen Wagen zu ergattern, nicht zu spät zu ihrem Termin, einer Verabredung zu erscheinen. Andere hielten gebannt Ausschau; wonach, das wussten nur sie allein, während der Dampf der schnaufenden Lokomotiven die Bahnsteige entlangwaberte und die Sicht vernebelte. Viele warteten einfach nur, seit Ewigkeiten, wie es schien. Als wüssten sie selbst nicht, ob ihr Zug jemals kam.

Grischa spähte auf seine Taschenuhr, steckte sie jedoch gleich wieder ein. Für ihn gab es jetzt keine Frachten mehr, die schnellstmöglich befördert werden mussten. Keine Fristen und Kundentermine, keine Besprechungen und Vorstandssitzungen.

Jeden Wettlauf mit der Zeit hatte er gewonnen, nun hatte er viel zu viel davon.

Nach Katya war er der letzte der Eisbarone, der sich aus dem Unternehmen zurückgezogen hatte. Das Vermögen, das sich über die Jahre angesammelt und gut angelegt worden war, und die regelmäßigen Zahlungen von Jakob und Cathrin für seine Anteile ermöglichten ihm das sorgenfreie Dasein, nach dem er sein Leben lang gestrebt hatte.

Als ein Abenteuer hatte es begonnen. Damals, mit den Walfängern auf den Meeren des Nordens, mit grönländischen Pelzen und einer Polarnacht auf Spitzbergen. Kühn hatten sie das Eis aus den zugefrorenen Seen Norwegens in die Tropen verschifft und sich in Madras mit den Schätzen Indiens die Taschen vollgestopft.

Der Stoff, aus dem Legenden gemacht waren.

Die Zeit der Legenden neigte sich jedoch dem Ende entgegen, zusammen mit der Ära der großen Segler. Die Zukunft gehörte dem Dampfantrieb, der die Welt in Windeseile einem neuen Jahrhundert entgegenschob. Bald schon würden Maschinen vieler Hände Arbeit ersetzen, neue Erfindungen das Kreiseln der Welt weiter beschleunigen und dabei die Spreu vom Weizen trennen. Auch in der Welt des Handels.

Immer mehr Eis strömte aus dem Winter Norwegens in den Rest Europas und drückte zunehmend den Preis. Inzwischen deckten sogar die Brauereien im Süden Deutschlands ihren gewaltig angestiegenen Bedarf damit; ein Markt, auf dem die Eisbarone aus Hamburg nie hatten Fuß fassen können. Es würde nur eine Frage von Jahren sein, bis die Technik auch hier so weit war, eine andere Form der Kühlung anzubieten, die einfacher und sicher auch billiger war, das spürte Grischa in den Knochen.

Jetzt machte es sich bezahlt, dass sie nie auf das Eis allein gesetzt hatten. Aus Petersen & Voronin war ein etabliertes Handelshaus von Weltruf geworden, eine junge Reederei mit rosigen Aussichten, gut gerüstet für die neue Zeit; bei Cathrin und Jakob wusste Grischa das Lebenswerk der Eisbarone in besten Händen.

Deshalb war er ohne großes Bedauern gegangen, ohne einen wehmütigen Blick zurück.

Grischa setzte sich bequemer im Sessel zurecht und musterte seinen durchscheinenden Doppelgänger in der Scheibe. Seit Tristan im Krieg gefallen war, war er zunehmend ergraut, Haar und Bart wie alter Schnee. Fünfundsechzig Jahre würde er bald zählen. Eine viel zu hoch gegriffene Zahl für einen Mann wie ihn, groß und kräftig wie eh und je, und er hatte auch noch alle seine Zähne. Und doch glich sein Gesicht heute einer Landkarte, die man lange in der Tasche getragen hatte. Manchmal knackte und stach es in seinen Gelenken, verwittert vom Salz der Meere und der Zeit, zog es in seinen Muskeln wie ein unerfülltes Sehnen.

Die Tür des Abteils öffnete sich. Ein verirrter Sonnenstrahl fing sich an Glas und Messing und blendete Grischa. Blinzelnd konnte er die hünenhafte Gestalt eines Mannes ausmachen, umgeben von einer leuchtenden Aureole, die sein Haar fast weiß leuchten ließ.

Thilo.

Grischas Herz setzte einen Schlag aus und sprang dann wild in seiner Brust umher, in einem ungezügelten, unwahrscheinlichen Gefühl von Glück.

»Verzeihen Sie. Ist hier noch frei?«

Eine Stimme wie weite Wiesen und sanfte Hügel und dichte Laubwälder, die ein zwar geübtes, aber sperriges Französisch sprach. Ein Fremder, der ihn einen Wimpernschlag lang getäuscht hatte.

Nein, lag es Grischa auf der Zunge, die wie totes Holz in seinem ausgedörrten Mund steckte. Doch der Schock saß zu tief, und mechanisch nickte er.

Mit selbstsicheren Bewegungen schloss der andere Reisende die Tür und verstaute sein Gepäck, das von ebenso guter Qualität war wie Anzug und Schuhe, aber sichtlich weit gereist. Aufseufzend warf er den Hut auf die Ablage und ließ sich in einen der Sessel fallen. Schräg gegenüber von Grischa, als wollte er ihm möglichst viel Raum lassen, ohne dabei gleich rüde eine Mauer zwischen ihnen hochzuziehen. In Grischas Alter mochte er sein, ein paar Jahre hin oder her, das sandfarbene Haar wich am Ansatz bereits zurück und glimmerte silbern.

»Stört es Sie, wenn ich rauche?«, fragte er.

Grischa deutete ein Kopfschütteln an. Jetzt konnte er die Ecken und Kanten im Französisch des anderen einordnen, von der anderen Seite des Ärmelkanals stammten sie her. Einladend hielt ihm der Engländer das aufgeklappte Zigarettenetui entgegen, und ein Mundwinkel Grischas hob sich zu einem halben Lächeln.

»Ich habe einige Laster«, wehrte er auf Englisch ab, das ihm nach all den Jahren im Geschäft fast so flüssig über die Lippen kam wie Deutsch. »Dies ist keines davon.«

Das Lächeln seines Gegenübers zeigte eine gewisse Sympathie, als er sich eine Zigarette anzündete und gelassen den Rauch ausblies.

Ein interessantes Gesicht hatte er, die Linien darin energisch, die Querfalten der hohen Stirn wie eine Maserung im Holz. Ein Gesicht, das viel gesehen, viel erlebt hatte. Er wandte den Kopf und lugte zum Fenster hinaus. Im einfallenden Licht leuchteten seine schmalen Augen so blau wie ein Gletscher.

»Verspricht immer bedeutend mehr, als es am Ende auch hält«, kommentierte er in einem schneidigen und blank polierten Englisch, eingekerbt von den Sprachen fremder Küsten. »Eine stark parfümierte Kokotte, die hinter ihrer dicken Schminke eine alte Vettel verbirgt.«

Fragend hob Grischa die Brauen.

Sein Gegenüber ruckte mit dem Kinn zum Fenster hin. »Paris.«

Grischa lachte. Zwischen Notre Dame, dem Louvre und Napoleons Grab im Invalidendom hatte er es ähnlich empfunden, in Montmartre und dem Quartier Latin und auf den Champs-Élysées. Deshalb saß er auch wieder hier im Zug, nach nur ein paar Tagen, Paris war ohnehin nur eine Zwischenstation gewesen.

»Ich halte es mehr mit Italien«, erzählte der Engländer zwischen zwei Zügen an seiner Zigarette. »Gutes Essen, guter Wein. Steine der Antike, wohin man tritt, und die Farben der Renaissance. Schöne Menschen mit einer schönen Seele. Das Wetter ist auch besser.«