Grischas bärtiger Mund kräuselte sich amüsiert.
»Fahren Sie auch dorthin?«, wollte der andere wissen.
Grischa bejahte. Dieser Zug fuhr durch, über Lyon und Aix-les-Bains weiter nach Süden, um am Mont Cenis im längsten Tunnel der Welt unter den Alpen hindurchzutauchen und am Monte Cesino auf der anderen Seite wieder zum Vorschein zu kommen, mit Ziel Turin.
Grischas Pilgerfahrt auf Thilos Spuren.
»Die gnädige Frau Gemahlin ist nicht mitgekommen?«, erkundigte sich der Engländer.
Die Neugierde des anderen reizte Grischa auf der Haut.
»Ich bin nicht verheiratet. Sie?«
Das Lächeln hinter dem Zigarettenrauch hatte etwas Rätselhaftes.
»Not my cup of tea«, lautete die Antwort dazu nicht weniger kryptisch.
Grischa kniff die Augen zusammen, plötzlich auf der Hut. Früher hätte er eine solche Bemerkung nicht auf die Goldwaage gelegt. Doch für Männer wie ihn hatten sich die Zeiten geändert.
Preußen hatte nicht nur ganz Deutschland mit in den Krieg gezerrt, sondern dem frisch gegründeten Reich danach seine puritanischen Werte übergestülpt. Lust und Liebe unter Männern galten jetzt als widernatürlich und abartig, das neue Gesetzbuch stellte sie unter Strafe. Selbst in Hamburg, das doch einmal so freigeistig und großmütig gewesen war.
Wer Gleichgesinnte suchte, fand sie immer noch. In den dunklen Winkeln, den finsteren Ecken, schmutzstarrenden Absteigen. Stets die Furcht im Nacken, entdeckt und verraten zu werden, ein Opfer von Feindseligkeit und Hass.
Nicht nur der Gedanke an den grausamen Tod Thilos hielt ihn davon ab, sich in die Heimlichkeit zu flüchten, er fühlte sich schlicht zu alt dafür. Am Ende steckte wohl doch immer noch etwas Rebellisches in ihm, das sich weigerte, diese Seite seines Selbst entweder zu verleugnen oder unter Druck von oben im Schmutz zu knien.
Auch deshalb zog es ihn nach Italien, nachdem er sich in Frankreich bereits auf sicherem Boden wusste.
»Ich habe noch nie verstanden«, tastete Grischa sich jetzt behutsam vor, »warum man sich zwischen Tee oder Kaffee entscheiden sollte. Ich trinke beides.«
Das Lächeln auf dem Gesicht seines Gegenübers dehnte sich aus und bekam geradezu etwas Verschwörerisches. Mit ausgestreckter Rechter richtete er sich auf.
»Oliver Ashford.«
Sein Händedruck war markig wie er selbst.
»Gregor Voronin.«
Mit dem Erwerb der Bürgerrechte hatte Grischa seinen Namen eingedeutscht.
Oliver Ashford hielt Grischas Hand eine Spur länger als nötig. Aufmerksam wanderten seine eisblauen Augen über Grischas Gesicht.
»Sie sind Russe?«
Grischa schwieg einen Herzschlag lang. Ein einfaches Ja wäre die Wahrheit gewesen und doch zu kurz gegriffen, mehr als fünf Jahrzehnte, nachdem er Russland den Rücken gekehrt hatte.
Was war man gegen Ende eines Lebens, wie Grischa es gelebt hatte?
»Aus Hamburg«, antwortete er.
Die Brauen zusammengezogen, ließ Oliver Ashford sich in den Sessel zurückfallen.
»Von Petersen & Voronin, nehme ich an?«
Mit langsamen Bewegungen löschte der Engländer die Zigarette in einem der bereitstehenden Aschenbecher. Sein Blick wanderte zum Fenster hinaus, die Augen wie zum Schutz vor greller Sonne verengt.
»Ich kannte Thilo Petersen«, sagte er nach einer langen und angestrengten Pause. »Aus einem anderen Leben.«
Auf seinem männlich harten Gesicht zeichneten sich genug Trauer und Wehmut ab, um seine Geschichte zu erzählen. Eine tiefe Falte grub sich über seiner Nasenwurzel ein.
»Es gibt auf dieser Welt nicht viele Männer, wie er einer war.«
Hinter Grischas Brustbein fühlte es sich wund an, wie aufgescheuert.
»Nein, mit Sicherheit nicht.«
So etwas wie ein Lächeln zuckte über das Gesicht des Engländers, während er eine seiner Handflächen betrachtete, dann mit dem Daumen der anderen Hand darüberrieb.
»Ich«, begann er und unterbrach sich sogleich, ehe er mit einem Räuspern weitersprach, »ich glaube, es war sein großes Unglück, dass er zu sehr liebte. Nur sich selbst lieben, das konnte er nicht.«
Niemand hatte bisher besser in Worte fassen können, wer Thilo gewesen war.
Draußen schrillte ein lang gezogener Pfiff, und Türen fielen ins Schloss. Der Zug ruckelte an und rollte dann auf seinem Gleis durch die Halle.
Stumm sahen sich Grischa und der Engländer an. Zwei Fremde, die denselben Mann geliebt hatten und heute noch um ihn trauerten. Die sich zufällig am selben Tag im selben Abteil begegnet waren, in einem Zug, der sie unter dem eisigen Herz der Berge hindurchtragen würde. In den sonnigen Süden, wo Ährenfelder voller Klatschmohn auf sie warteten, Pinien und Zypressen und Olivenhaine, wilder Thymian und Wacholder und ein unwahrscheinlich blaues Meer. Zwischen den Ruinen der Vergangenheit gab es ein süßes Leben zu entdecken, inmitten der Säulen und Türme und Kuppeln der Städte mit ihren Piazzen und Palazzi. Eine träge Leichtigkeit, staubig vor Hitze und sommerflirrend. Bis hin nach Venedig, der Stadt der Brücken. Eine auf dem Wasser der Lagune erbaute Fantasie, rätselhaft und ein offenes Geheimnis zugleich. Das Ziel aller Sehnsüchte.
Während der Zug aus dem Bahnhof hinaus- und durch Paris rollte, breitete sich ein Lächeln auf den Gesichtern der beiden Männer aus.
Danke
Mariam und Thomas Montasser. Anker in rauer See, Lotsen in unbekannten Gewässern.
Maria Runge und Emily Modick, Wegbereiterinnen.
Lena Schäfer, Wegbegleiterin.
Ilse Wagner. Die wortschmirgelnd und satzschleifend immer genau spürt, was ich eigentlich hatte sagen wollen.
Jörg. Bis zum Horizont und weiter.
A. K. We’ll always have Hamburg.
Sanne, die mit mir auf Jakobs Pfaden gewandelt ist.
Peter und Rose, Jutta und Jupp. Meine Familie.
E. L. Onward.