Madeleine freut sich über unseren Besuch. Ihr Sohn ist zehn Jahre alt und beschäftigt sich mit einer Engelsgeduld mit Napirai. Ausführlich erzählen wir einander unsere Lebensgeschichten und als sie hört, dass ich gerade meine definitive Aufenthaltserlaubnis in der Schweiz wieder bekommen habe, freut sie sich sehr für uns. Ich teile ihr meine Zuversicht mit, bald eine Arbeit zu finden. Nur mit einer Wohnung würde es wohl schwieriger werden, denn ich suchte eine in einer Siedlung wie dieser hier. Madeleine bietet sich an, bei der Verwaltung nachzufragen, doch solle ich mir noch keine Hoffnung machen, denn es bestehen Wartelisten auf diese günstigen Wohnungen. Aber dieser Flecken hat es mir wirklich angetan und ich werde nicht so schnell aufgeben.
Ich zeige ihr noch Fotos von meinem Mann und unserem Shop in Kenia und bitte sie, ihn in ihrem Urlaub aufzusuchen, um ihm einen Brief von mir zu geben. Auch solle sie versuchen, über Sophia etwas herauszufinden. Es scheint mir wie ein bedeutungsvoller Zufall, dass ich ausgerechnet bei meiner ersten aushäusigen Unternehmung jemandem begegnet bin, der nach Kenia fliegt. Mit etwas Wehmut wünsche ich ihr beim Abschied einen schönen Urlaub. Zu Hause schwärme ich meiner Mutter von der Wohngegend vor. Für mich steht fest, dass ich nicht weitersuche, solange ich keinen negativen Bescheid von der Verwaltung bekommen habe.
In den folgenden Tagen tröpfeln per Post vereinzelte Arbeitsangebote herein. Das meiste ist unbrauchbar. Entweder gefällt mir das zu vertreibende Produkt nicht oder die Firmen wollen keinerlei Garantielohn zahlen, worauf ich mich in meiner Situation nicht einlassen kann. Als ich die Hoffnung auf den Erfolg des Inserates schon aufgeben will, erhalte ich ein Angebot aus Zürich. Es geht um Seidenfoulards und Krawatten, die an Unternehmen als Werbegeschenke verkauft werden sollen. Ich schaue mir die beigelegten Prospekte an und spüre, dass das meine Chance ist. Sofort rufe ich an und vereinbare einen Vorstellungstermin.
Jetzt kommt es auf mich an. Die erste Stelle nach dem langen Auslandsaufenthalt zu bekommen, wird besonders schwer sein. Ich besorge mir eine anständige Stadtkarte von Zürich und kaufe ein schönes Kostüm. Dass ich so lang und dünn bin, hat den Vorteil, dass mir die meisten Warenhauskleider passen und gut stehen. Beim Friseur lasse ich mir zum ersten Mal in meinem Leben die Haare kurz schneiden und rot färben. Ein Paar neue Stöckelschuhe, nicht zu hoch, geben meinem Aussehen den letzten Schliff. Mein Massai-Leben, in einer »Kuhfladenhütte« an der Feuer stelle auf dem Boden kauernd und Ugali kochend, sieht mir niemand mehr an. Meine Mutter bestätigt diesen Eindruck, weil sie mich im ersten Moment kaum erkennt. Auch Napirai staunt mich unsicher an. Nur meine Stimme scheint ihr vertraut zu sein. Doch als ich ihr die Brust zum Stillen anbiete, stürzt sie wie gewohnt auf mich zu. Wohlig saugt sie sich an und ist nun ganz sicher, dass sie bei ihrer Mama gelandet ist.
Da ich zu dem Vorstellungsgespräch möglichst entspannt erscheinen möchte, beschließe ich, nicht mit dem Auto, sondern mit dem Zug nach Zürich zu fahren. Aber schon am Bahnhof erlebe ich meine erste Niederlage. Ich möchte die Fahrkarte am Schalter lösen, doch steht dort eine große Menschentraube. Weil bis zur Abfahrt nicht mehr viel Zeit bleibt, frage ich den Mann am Schalter kurz, ob ich auch im Zug nach Zürich ein Billett kaufen könne. Er schaut mich verdutzt an und sagt: »Nein, in der S-Bahn geht das nicht. Sie müssen am Automaten auf dem Bahnsteig lösen.« In zwei Minuten kommt der Zug. Ich haste zum angegebenen Gleis und suche den entsprechenden Kasten. Als ich ihn entdecke, kann ich nur verwirrende Zahlen und Pfeile erkennen. Wie ein Steinzeitmensch stehe ich da und weiß nicht, wie ich zu einer Fahrkarte komme. Mit herablassender Nachsicht erklärt mir ein Jugendlicher den Automaten. Ich könnte in den Boden versinken vor Scham. Wie tollpatschig ich doch geworden bin während meines vierjährigen Lebens im Busch!
Die Orientierung in Zürich stellt die nächste Herausforderung dar. Mit Mühe frage ich mich durch. Völlig durchgeschwitzt in meinem schönen neuen Kostüm komme ich bei der vereinbarten Adresse an. Zum Glück habe ich noch zehn Minuten Zeit, mich etwas zu beruhigen.
Im Präsentationsraum strahlen die Foulards in den tollsten Farbkombinationen um die Wette. Ich werde von einer etwa 50-jährigen Frau begrüßt. Nachdem ich mich kurz vorgestellt habe, ruft sie ihren Mann, der wohl für die Einstellung zuständig ist. Es erscheint ein kleiner, älterer, doch vitaler Herr. Er zeigt mir gleich die verschiedenen Qualitäten und Stoffe. Ich bin mir nicht sicher, was ich von dem Paar halten soll, doch die Artikel sind schön und auf jeden Fall gut zu verkaufen, das erkenne ich sofort. Der Mann bittet mich in sein Büro und wir unterhalten uns. Als er erfährt, dass ich erst vor kurzem aus dem Ausland zurückgekommen bin, ist er nicht sehr begeistert, da ihm natürlich Referenzen fehlen. Wohlweislich erzähle ich nur von meiner Geschäftstätigkeit im Souvenirbereich in Mombasa. Die Frage, ob ich verheiratet sei, beantworte ich mit nein, da sowieso noch nicht geklärt ist, wie ich künftig registriert werde. Er wertet das positiv, denn Ehemänner würden häufig auf ihre Frauen im Außendienst mit Eifersucht reagieren. Nach Kindern werde ich nicht gefragt und so erwähne ich meine Tochter vorläufig auch nicht. Am Schluss unterhalten wir uns über das Gehalt. Erstaunlicherweise ist er mit meinem Vorschlag sofort einverstanden, sofern es zu einem Arbeitsverhältnis kommt. Er habe noch einen anderen Interessenten und auch ich solle mir das Ganze noch mal überlegen. Ich sage ihm gleich, dass ich keine Bedenkfrist brauche und sobald wie möglich anfangen möchte. Er lacht und meint: »Ich rufe sie in den nächsten Tagen an.«
Obwohl ich nicht weiß, wie seine Entscheidung ausfällt, mache ich mir auf dem Weg zur Straßenbahn bereits Gedanken, wie ich vorgehen könnte, denn es besteht kein Kundenstamm und ich müsste alles neu aufbauen. Bis jetzt verkaufte er nur an Kleidergeschäfte als Wiederverkäufer. Ich aber soll die teuren Markenprodukte bei der Industriekundschaft als Firmenwerbegeschenke einführen. Der Job reizt mich, denn an Stelle von nüchternen Versicherungsverträgen könnte ich schöne Produkte präsentieren. Die Heimreise gestaltet sich problemlos. »Siehst du, Corinne, so wird dir jeder Arbeitstag das Leben hier wieder näher bringen und einfacher machen«, schmunzele ich in mich hinein.
Zu Hause stürzt sich Napirai auf mich und schiebt mir den Pullover hoch, um an meiner Brust zu saugen. Oh, wie ich mein Mädchen mit ihren braunen Kraushaaren und ihren dunklen Kirschaugen liebe! Das wird schon eine Umstellung, wenn wir den Tag nicht mehr zusammen verbringen können. Aber ich weiß, dass sie es bei meiner Mutter wirklich gut hat, denn sie liebt sie wie eine eigene Tochter.
Nun müssen wir noch eine Tagesmutter suchen, die Napirai die restlichen zwei Tage in der Woche versorgen kann. Am liebsten hätte ich jemanden mit Kindern, denn Napirai vermisst das Spielen mit Gleichaltrigen. In Wetzikon gibt es eine Familienberatungsstelle, die ich am nächsten Tag aufsuche, um mich zu erkundigen, wie ich am besten eine Familie finden kann. Die ältere Dame dort ist sehr nett und hilfsbereit und verspricht mir, sich umzuhören und mich so bald wie möglich zu informieren. Dankbar und erleichtert schlendere ich anschließend durch das Dorf und denke nicht ohne Staunen darüber nach, wie einfach mein Leben wieder geworden ist. Mit jedem kann ich sprechen und jeder versteht mich. Überall kann ich mich erkundigen oder erhalte sogar Hilfe. Seltsamerweise wird mir mit zunehmender zeitlicher Distanz immer klarer, wie hart und schwierig mein Leben in Kenia war. Nur weil mich meine große Liebe zu Lketinga so beflügelte, habe ich es damals nicht so empfunden.
Nun ist in Punkto Arbeit, Wohnung und Kinderbetreuung alles auf den Weg gebracht und ich kann nur noch auf die einzelnen Bescheide warten. Ich spüre, dass sich mein Leben in kurzer Zeit von Grund auf verändern wird und bin voller Neugier.