Am Abend ruft mich Madeleine an und erzählt, dass zur Zeit leider keine Wohnung frei wird und für jede Wohnung eine Warteliste existiert. Trotzdem gibt sie mir die Adresse der Verwaltung. Vielleicht sei es besser, wenn ich mich persönlich melden würde. Ich bedanke mich und wünsche ihr nochmals schöne Ferien in Kenia, denn sie fliegt am nächsten Tag ab. Enttäuscht versuche ich, die Nachricht zu verdauen und beschließe, noch ein paar Tage abzuwarten.
Von meinem hoffentlich zukünftigen Arbeitgeber habe ich seit dem Vorstellungsgespräch nichts mehr gehört. Da ich auch keine anderen Angebote erhalten habe, bin ich entschlossen, um diesen Job zu kämpfen. Deshalb rufe ich an und frage nach. Der vitale, ältere Herr drückt sich um eine klare Antwort ein wenig herum. Ich frage ihn kurzerhand, wo sein Problem sei. Nun, er wisse nicht so recht, ob ich die geeignete Person sei. Er würde es zwar mit mir versuchen, aber nicht zu dem vereinbarten Lohn, da ich schließlich keine Berufspraxis habe. Ich müsse meine Gehaltsforderung deutlich reduzieren. Ungehalten erkläre ich ihm, dass ich mein verlangtes Geld auf jeden Fall wert bin. »Wer in Afrika erfolgreich Geschäfte gemacht hat, wird auch hier erfolgreich sein!« Nach einigem Hin und Her gibt er mir die Zusage, dass ich am 1. Mai anfangen könne. Zwei Tage später halte ich den Vertrag in Händen. Die erste Stelle, für die ich mich beworben habe, habe ich erhalten. Wenn ich kein Glückskind bin!
Wieder auf eigenen Füßen
Mir bleiben zwei Wochen Zeit, mich vorzubereiten und ein Fahrzeug zu besorgen. Obwohl ich mich auf die Herausforderung freue, habe ich manchmal auch Bedenken, ob ich überhaupt noch fähig bin, mich in der Geschäftswelt zu behaupten. Es folgen sehr hektische Tage. Ich finde einen alten Ford, den ich mir gerade noch leisten kann. Da die verschiedenen Versicherungen eine Menge Geld verschlingen, geht mein »Notgroschen« langsam zu Ende. Es muss endlich wieder etwas verdient werden.
Drei Tage vor meinem ersten Arbeitstag ruft mich kurz vor Mittag die nette Frau von der Familienberatungsstelle an. Wir hätten Glück, denn es habe sich ein nettes Ehepaar aus Wetzikon gemeldet, das einen Jungen im Alter von Napirai habe. Sie habe schon ein Gespräch geführt und nun solle ich mit Napirai einmal die Familie aufsuchen. Schließlich seien gleiche Erziehungsansichten und gegenseitige Sympathien wichtig. Ich rufe bei der Familie an und wir vereinbaren einen Termin. Während unseres Besuches wird mir das ruhige, ausgeglichene Ehepaar immer sympathischer. Auch die beiden Kinder scheinen sich gut zu verstehen. Schon nach kurzer Zeit sitzen sie auf dem Fußboden und spielen einträchtig mit den Spielsachen des Jungen. Nachdem wir uns ausgiebig beschnuppert haben, vereinbaren wir, dass ich Napirai Donnerstag und Freitag vorbeibringen werde. Die restlichen Tage wird ihre Großmutter für sie sorgen. Nun ist vieles geklärt und ich kann meinen Job antreten.
Der erste Arbeitstag vergeht wie im Flug. Wir haben ausgemacht, dass ich eine Woche im Laden eingearbeitet werde, um die Produkte und die verschiedenen Muster und deren Namen kennen zu lernen. Alles ist neu und aufregend. Erst im Auto auf dem Nachhauseweg merke ich, wie müde ich plötzlich bin. Ich könnte auf der Stelle einschlafen. Während ich mit meiner Müdigkeit kämpfe, kommt mir der Arzt des Krankenhauses in Wamba in den Sinn. Er sagte mir damals, auf Grund meiner schweren Hepatitis werde ich lange Zeit nicht mehr arbeiten können und auch nach Jahren wahrscheinlich nur mit halber Kraft, denn mein körperlicher Gesamtzustand sei völlig desolat und es würde viel Zeit vergehen, bis meine Abwehrkräfte wieder aufgebaut seien. »Das ist sicher nur die Umstellung«, versuche ich mich zu beruhigen und die Erinnerung an meine damaligen Krankheiten zu verdrängen.
Zu Hause empfängt mich Napirai ungeduldig und zerrt wie üblich an meiner Bluse. Ich habe immer noch relativ viel Milch und die Brüste sind gespannt, was mich im Laufe des Tages immer wieder gestört hat. So beschließe ich schweren Herzens, in den nächsten Tagen langsam abzustillen. Alles sei bestens gelaufen, beruhigt mich meine Mutter. Nur nach dem Mittagsschlaf hätte Napirai kurz geweint, weil sie meine Brust nicht hatte. Sie kennt weder Schnuller noch Fläschchen und jetzt noch damit anzufangen, halte ich für Unsinn. Für einen kleinen Moment meldet sich in mir ein schlechtes Gewissen, denn ich bin nicht gewohnt, dass Napirai weint, außer wenn sie sich körperlich wehgetan hat. In Kenia hört man selten Kinder weinen und schon gar nicht quengeln, wie es mir hier in letzter Zeit häufig aufgefallen ist.
Der einwöchige Einführungskurs bekommt mir gut. Ich habe mit verschiedenen Leuten zu tun und mein Selbstvertrauen, das anscheinend nur ich als unterentwickelt empfinde, wächst von Tag zu Tag. Zum ersten Mal seit meiner Rückkehr spüre ich, dass ich auch als Frau wahrgenommen werde. Allzu lange habe ich mich nur noch als Mutter gesehen. Nun aber, wenn ich in den Mittagspausen in das nahe gelegene Restaurant zum Essen gehe, fällt mir der eine oder andere anerkennende Blick auf. Einmal überlege ich für einen kurzen Moment, wann ich das letzte Mal Sex hatte und stelle fest, dass ich es nicht mehr so genau weiß. Bei meinem Mann und mir stand Sexualität nicht im Mittelpunkt. Obwohl ich ihn sehr erotisch fand, musste ich schon zu Beginn unserer Beziehung zur Kenntnis nehmen, dass bei den Samburu weder geküsst noch gestreichelt wird. Sex ist bei ihnen kein Spiel, sondern dient ausschließlich der Fortpflanzung und allenfalls der männlichen Befriedigung. Einen Orgasmus der Frau kennen sie nicht. Ein Grund hierfür ist unter anderem auch die schreckliche Beschneidung der Mädchen. Diese grausame Verstümmelung der weiblichen Genitalien werde ich nie begreifen. Selbst Lketinga konnte es sich kaum erklären, warum den Frauen so etwas angetan wird. Die kurze Dauer der Liebesakte zwischen uns störten mich bald nicht mehr, denn ich liebte meinen Mann aus tiefstem Herzen und war lange Zeit einfach nur glücklich, bei ihm leben zu können.
Während ich die Männer im Restaurant betrachte, gelingt es mir nicht, mir eine Beziehung oder gar Sex vorzustellen. Der Gedanke, mich nach mehr als fünf Jahren mit einem »Weißen« einzulassen, erfüllt mich mit Furcht und überfordert offensichtlich meine »stillgelegten« Fantasien. Oder liegt es nur daran, dass ich einfach nicht verliebt bin und wichtigere Aufgaben habe? Dennoch stelle ich fest, dass mir die ungewohnte Aufmerksamkeit gut tut, und so genieße ich sie während der kurzen Mittagszeit aus gesicherter Distanz, zumal sie nicht aufdringlich ist.
Als ich Napirai zum ersten Mal bei der Tagesmutter abgeben muss, zerreißt es mir fast das Herz. Ihre Mundwinkel beginnen zu zittern und ihre dunklen Augen füllen sich mit Tränen. Weinend stammelt sie immerzu »Mamaaaa« und streckt ihre Ärmchen nach mir aus. Die Pflegemutter nimmt Napirai auf den Arm und spricht beruhigend auf sie ein, während sie liebevoll ihre Löckchen streichelt. Sie wird es hier gut haben, spüre ich bei diesem Anblick erleichtert und gehe dennoch schweren Herzens arbeiten. Erst im Geschäft werde ich durch die neue Aufgabe abgelenkt. Heute fange ich an, telefonisch Termine zu vereinbaren. Es ist nicht einfach, das Interesse der zuständigen Personen zu gewinnen, doch bis zum Abend stehen einige wenige Termine fest. Sofort nach der Arbeit fahre ich zur Pflegefamilie und stürme förmlich in meinen Stöckelschuhen die drei Stockwerke hoch. Napirai öffnet mit ihrer Ersatzmami die Tür und an ihrem verschmierten Gesichtchen ist zu erkennen, dass sie wohl gerade Abendbrot gegessen hat. Sie stürzt nicht mehr sofort auf meinen Pulli los, sondern nimmt meine Hand und zieht mich plappernd in das Zimmer, in dem die beiden Kinder offenbar bis vor kurzem gespielt haben. Sie wirkt fröhlich und zufrieden und mir fällt ein Stein vom Herzen. Als wir nach Hause zu meiner Mutter kommen, gibt es ein großes Hallo, denn es war das erste Mal, dass Napirai so lange von ihr fort war.