Meine Mutter überreicht mir zwei Briefe aus Kenia. »Oh, gleich zwei«, staune ich und nehme an, der zweite sei von Sophia. Im ersten schreibt James, dass er sich sehr freut, weil wir uns in der Schweiz ansiedeln dürfen. Alle hätten für uns gebetet und nun hätte es genützt. Auch bedankt er sich im Namen von Mama für das Geld, das sie durch die Mission bekommen habe. Es ist ein liebevoller Brief und ich bin froh, dass alles so gut klappt. Der zweite, laut Briefkopf schon vor drei Wochen geschrieben, ist von Lketinga. Ich bin sehr überrascht, denn es ist das erste Lebenszeichen von ihm seit unserem Telefonat vor einem halben Jahr.
Liebe Corinne Leparmorijo
Jambo! Wie geht es dir, meine Frau? Ich hoffe, du bist okay. Mir geht es gut, aber ich vermisse dich und meine Tochter sehr. Ich hoffe, du hast gehört, dass mein Auto gebrannt hat, aber ich weiß nicht, wie es passiert ist. Eine Seite war ganz kaputt. Die meisten Probleme habe ich mit dem Shop, in dem ich noch arbeite. Seit du im Oktober zurückgegangen bist, haben wir kein Geschäft mehr gemacht. Ich habe die Shop-Miete nicht bezahlt, nur die Hälfte vom Februar, 5.000 Kenia-Schillinge. So warte ich, um im Mai 21.000 Ksh zu zahlen. Wegen der Golfkrise machen wir kein Geschäft. Alle haben diesen Ort verlassen. Den Indienshop gibt es nicht mehr. Geblieben sind nur Doktor Kulumba und das chinesische Restaurant. Ich habe jetzt das Auto verkauft und dafür einen kleinen Toyota Saloon gekauft.
Ich habe es für 80.000 Ksh verkauft, aber die Person, die es gekauft hat, hat nie alles bezahlt, sondern nur 67.000 Ksh. Deshalb, bitte, darfst du mich nicht vergessen. Schicke mir Geld, damit ich die Shop-Miete bezahlen kann. Ich fahre jetzt Taxi für die Touristen, die noch kommen. Ich hoffe, du bekommst einige Briefe von meinem Bruder, oder nicht?
Wir haben viel Regen in Mombasa. Es ist jetzt unser Winter. Viele Grüße von den Kamau-Massai, sie vermissen dich und Napirai. Sie nennen mich immer Papa Napirai. Dann erinnere ich mich so sehr an meine Tochter. Wenn ihr nicht zurückkommt, lass es mich wissen, dann will ich meiner Tochter ihre Kleider und Puppen schicken. Schreibe mir, was du jetzt machst. Arbeitest du oder bist du nur bei deiner Mama zu Hause? Ich wollte nicht, dass Priszilla für mich schreibt, weil sie nie schreiben will, was ich sage. Sie schreibt nur nach ihrem Kopf. Deshalb hat mir bei diesem Brief ein Freund geholfen.
Viele Grüße an meine Tochter. Ich vermisse sie und ihre Liebe zu mir. Ich vermisse euch beide.
Viele Grüße an die ganze Familie
Meine erste Reaktion auf den Brief ist Wut. Ich verstehe nicht, dass er mich um Geld bittet, nachdem ich ihm alles, was ich hatte, überlassen habe. Für kenianische Verhältnisse war er vor einem halben Jahr steinreich. Andererseits ist mir auch klar, dass er den Laden nicht allein organisieren kann. Noch einmal lese ich den Brief und werde sehr traurig. Ich spüre, dass er uns wirklich vermisst und uns auch brauchen würde. Bilder tauchen in mir auf und mir gehen die schönen Zeiten durch den Kopf, als wir glücklich durch den Busch gezogen sind. Ich sehe Lketinga vor mir, wie er mir stolz alle Wurzeln und Sträucher erklärte, wie er mir am Fluss, abgeschirmt von neugierigen Blicken, zärtlich den Rücken wusch, mit einer Engelsgeduld meine Haare einseifte und sie mit dem spärlichen Flusswasser mit Hilfe einer Dose ausspülte. Wie er besorgt nach Essen suchte, als ich krank und schwach war. Oder wie er mich auch bei den größten Problemen anstrahlte und sagte: »No problem, my wife.« Immer mehr verliere ich mich in positiven Erinnerungen, während die vielen schrecklichen Szenen im Hintergrund verschwimmen. Doch wenn ich meinen Verstand gebrauche, weiß ich, dass es ein Zurück nicht geben kann. Ich würde mein Leben wegwerfen!
Eines steht fest: Ich kann und will ihm nicht helfen, denn ich habe kein Geld mehr übrig. Ich bin gespannt, was Madeleine mir berichten wird, wenn sie aus dem Urlaub zurück ist.
Sonntag Abend ruft sie mich an und hat eine schlechte und eine gute Nachricht. Der Urlaub habe ihr sehr gefallen und sie sei traurig, dass alles schon wieder vorbei ist. »Hast du Lketinga den Brief gegeben?«, frage ich dazwischen. »Nein, ich war zwei Mal beim Laden, aber er war immer geschlossen. Überhaupt wirkt dort alles wie ausgestorben und in deinem ehemaligen Geschäft befinden sich nur noch wenige Artikel. Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass dort noch gearbeitet wird«, erzählt sie mir. Es gibt mir doch einen Stich ins Herz, dass das, was ich mit mühevoller Arbeit aufgebaut habe, so heruntergewirtschaftet wurde. Sophia habe sie nicht angetroffen, aber erfahren, dass sie verreist sei. Ich bin etwas enttäuscht, dass sie mir nicht mehr berichten kann, aber zumindest weiß ich nun, dass das gewünschte Geld für den Shop nicht mehr nötig ist.
Nun aber kommt die erfreuliche Nachricht, die mein jetziges Leben betrifft. Sie habe gehört, dass im gegenüber liegenden Block eine Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung frei würde, die vielleicht noch nicht vergeben ist. Die Aussicht, unter Umständen eine Wohnung in meiner Traumsiedlung erhalten zu können, elektrisiert mich. Sofort setze ich mich hin und schreibe an die Verwaltung einen langen Brief, in dem ich meine Situation schildere.
Ich bitte um eine Chance für mich und meine Tochter Napirai. Zwei Tage später rufe ich an. Die Sachbearbeiterin kann sich gleich an mein Schreiben erinnern, meint aber, es gäbe eine lange Warteliste. Nachdem ich ihr noch einmal eindringlich meine besondere Notlage geschildert habe, bittet sie mich freundlich, ihr eine Nacht Bedenkzeit zu lassen, sie werde mir morgen Bescheid geben. Wieder folgt ein Stoßgebet zum Himmel. Auch meine Mutter ist aufgeregt und schlägt vor: »Lass uns schnell dort hinfahren! Schließlich möchte ich sehen, wofür ich beten soll.« Wir sind begeistert, als wir den Gartensitzplatz sehen. Napirai könnte dort auf dem Rasen spielen und im Sommer würden wir ein Planschbecken für sie aufstellen. Schon schmieden meine Mutter und ich Pläne. Es wäre zu schön, wenn ich diese Wohnung bekäme!
Am nächsten Tag stehen meine ersten Außendienstbesuche an. Mit zwei beladenen Taschen erscheine ich bei verschiedenen Firmen und zeige die Krawatten und Foulards. Soforterfolge gibt es leider keine, da alle erst das Firmenbudget für Werbegeschenke abklären müssen. Ich solle mich in drei bis vier Wochen wieder melden. Obwohl fast jeder der Kunden für sich persönlich etwas kauft, bringt das natürlich noch nicht den erhofften Umsatz und die damit verbundenen Provisionen. Na ja, es sind meine ersten Versuche und mir ist klar, dass ich viel Aufbauarbeit leisten muss.
Am Abend sitzen wir nervös beim Essen und warten auf den Anruf der Wohnungsverwaltung. Langsam verstreicht die Zeit und meine Hoffnung beginnt bereits zu schwinden, als es kurz vor zehn klingelt. Tatsächlich, es ist die nette Dame von der Wohnungsverwaltung. Sie entschuldigt sich für den späten Anruf und fragt mich, ob ich denn schon eine Arbeit hätte und welche. Ich bin sofort wieder hellwach und gebe freudig Auskunft. Dann höre ich einen tiefen Atemzug und sie sagt: »Gut, ich mache bei Ihnen eine Ausnahme, denn seit ich Ihren Brief gelesen habe, gehen Sie und Ihre Tochter mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich werde Ihnen den Vertrag zustellen. Den genauen Einzugstermin kann ich Ihnen allerdings noch nicht mitteilen, weil die Erben der verstorbenen Vormieterin noch einiges regeln müssen.« Mit Tränen in den Augen bedanke ich mich und kann mein Glück kaum fassen. Sogar meine Mutter glaubt langsam: »Trotz allem bist du wirklich ein Glückspilz, ich gratuliere dir. Aber jetzt werden eine Menge Ausgaben auf dich zukommen.« Ich entgegne, dass ich doch nur das Nötigste zum Leben brauche. Sofort rufe ich Madeleine an und gemeinsam freuen wir uns auf meinen baldigen Einzug. Da ich keine Möbel besitze, wird der Umzug leicht zu bewerkstelligen sein.
Ein paar Tage später ruft mich ein mir unbekannter Mann an. Es stellt sich heraus, dass es ein Sohn der Vormieterin ist. Er hätte durch die Verwaltung von meiner Geschichte erfahren und wolle mir einen Vorschlag unterbreiten. »Ich habe gehört, dass Sie in die Wohnung meiner verstorbenen Mutter ziehen werden, und soviel ich weiß, besitzen Sie nichts, weil Sie gerade aus dem Ausland zurückgekommen sind. Nun möchte ich Ihnen vorschlagen, sich die Wohnungseinrichtung anzuschauen. Was Sie haben möchten, können Sie übernehmen. Den Rest lasse ich vom Sperrmüll abholen. Als Gegenleistung müssten Sie die Endreinigung übernehmen. Ist Ihnen das recht?« Ich bin überwältigt und gerührt. Dankend nehme ich an und wir vereinbaren einen Besichtigungstermin. Langsam wird mir mein Glück fast unheimlich. Zur Besichtigung kommt meine Mutter als Beraterin mit. Als ich die Wohnung betrete, bin ich sofort begeistert und weiß, dass wir uns hier wohl fühlen werden. Nach meinen kenianischen Hüttenbehausungen erscheinen mir das große helle Wohnzimmer, das Schlafzimmer, die offene Küche und das kleine Bad wie ein Palast. Die Möblierung ist zwar etwas altmodisch, aber mich stört das überhaupt nicht, da alles sauber und gepflegt aussieht und sich mit etwas Geschick mehr Farbe hineinzaubern lässt.