Bei der Gelegenheit fällt mir eine komische Situation ein, als wir vor etwa einem halben Jahr beim Einkaufen waren. Wir fuhren die Rolltreppe hoch, als uns auf der anderen Seite ein farbiger Mann entgegenkam. Napirai saß im Einkaufswagen, zeigte mit dem Finger auf den Mann und rief laut: »Papa!« Der Mann lächelte uns an, während ich einen hochroten Kopf bekam.
Und nun hängt sie an dem verkleideten schwarzen Knecht Rupprecht. Ich bin sicher, wenn sie erwachsen ist, wird sie ihren Vater besuchen wollen. Unsere Nikolausfeier geht dem Ende entgegen und wir räumen die Hütte gemeinsam auf. Napirai trägt auf dem Nachhauseweg stolz ihr Säcklein, das mit Nüssen, Lebkuchen und Schokolade gefüllt ist.
Einige Tage später erhalte ich einen Brief von James, in dem er berichtet, dass es allen einigermaßen gut geht. Aber seit fast einem Jahr hat es nicht mehr geregnet und Menschen und Tiere leiden Hunger. Wegen der Dürre sind schon viele gestorben. Es wächst kein Gras mehr und deshalb verenden die Kühe und die Menschen haben keine Milch, die für sie ein Hauptnahrungsmittel ist. Seiner Familie geht es aber auf Grund der finanziellen Hilfe, die sie durch mich und meinen Bruder Marc erfahren, wesentlich besser. Er bedankt sich nochmals überschwänglich und grüßt uns von der ganzen Familie. Über meine Anfrage wegen des Familienstammbuches schreibt er nichts und so weiß ich nicht, ob sich unsere Briefe gekreuzt haben oder ob mein Brief verloren gegangen ist. Ich werde noch etwas abwarten. Von Lketinga wisse er immer noch nichts, doch nach Mombasa möchte er nicht fahren. Er werde mich informieren, sobald er etwas Neues höre. Über die kommende Weihnachtszeit sei er für zwei Monate zu Hause und feiere wieder eine größere Zeremonie. Dafür müsse er noch eine Kuh kaufen, habe aber kein Geld. Er hoffe auch in diesem Fall auf meine Unterstützung.
Weihnachten feiern wir bei meiner Mutter und Hanspeter. Auch diesmal häufen sich die Geschenke für meine Tochter und mich plagt ein schlechtes Gewissen angesichts der Not und Dürre auf der anderen Seite der Erde.
Zu Silvester hat uns die Vorsitzende der Gruppe für allein Erziehende zu sich nach Hause eingeladen. Alle bringen wieder etwas mit: Salate, Pizza, Kuchen, Fleisch, Wein oder Champagner. Schließlich sind wir etwa dreizehn Erwachsene und doppelt so viele Kinder jeden Alters. Wir essen vom herrlichen Büffet und tanzen anschließend in der schön dekorierten Wohnung. Nach zehn Uhr haben wir immer noch so viel Essen übrig, dass wir überlegen, was zu tun ist. Da kommt die Idee auf, bei einer Radiostation anzurufen und eine entsprechende Meldung durchzugeben. Nach einigen vergeblichen Versuchen gelingt es einer von uns, zum Sender durchzukommen. Sie erzählt kurz von unserem Fest, dass wir dreizehn Frauen sind und auf viel Essbarem sitzen geblieben sind. Mitbringen müsse man nur gute Laune. Die Kinder werden nicht erwähnt. Kurz darauf klingelt ununterbrochen das Telefon und es melden sich reihenweise einsame Männer oder gar Männergruppen. Denen, die sich nett anhören, teilen wir die Adresse mit, aber nach etwa zehn Minuten nehmen wir keine weiteren Anrufe mehr entgegen, die Wohnung würde sonst aus allen Nähten platzen. Es dauert nicht lange und die ersten Besucher melden sich an der Wohnungstür. Die älteren Kinder stürmen zur Tür, um zu öffnen. Die Besucher entschuldigen sich und meinen, am falschen Ort geklingelt zu haben. Doch die Kinder, gut »dressiert«, sagen: »Nein, nein, kommt nur rein. Unsere Mütter sitzen oder tanzen im Wohnzimmer.« Alle werden so empfangen. Die einen sind erstaunt und bleiben trotz der Kinder da. Andere verabschieden sich gleich an der Tür. Um Mitternacht sitzen acht Männer herum und lassen sich geduldig von den Kindern Hüte und Pappnasen aufsetzen, die zuvor aus dem Tischfeuerwerk geplatzt sind. Gegen zwei Uhr nachts machen allerdings auch die aufgewecktesten Kinder schlapp und so beenden wir das außergewöhnliche und lustige Silvesterfest.
Zu Hause lege ich die schlafende Napirai ins Bett und sinniere über mein vergangenes Jahr. Es hat sich so viel verändert, aber ich fühle mich glücklich. Ich sitze in einer gemütlichen Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung und empfinde sie auch nach fast einem Jahr als riesengroß im Vergleich zu meinen vorherigen Behausungen. Noch heute betrachte ich manchmal den Kühlschrank eine ganze Weile, bevor ich mir etwas Essbares heraushole. Einfach so, aus Achtung und Respekt. Ja, wir haben es geschafft und ich danke dem lieben Gott für alles, was mir im vergangenen Jahr widerfahren ist, und bin gespannt, wie das kommende Jahr 1992 wird.
Gleich zu Beginn des Jahres habe ich einen Untersuchungstermin bei meinem Hausarzt. Ich muss meine Blut- und Leberwerte kontrollieren lassen. Der Arzt, der meine Geschichte vom ersten Besuch her kennt, ist überrascht, wie gut erholt ich nach diesem Jahr aussehe. Das ist nicht verwunderlich, denn ich habe fast zehn Kilo zugenommen. Zwar bin ich immer noch sehr schlank, wirke aber nicht mehr mager. Bei den Blutwerten findet er nur noch wenige Malaria-Erreger, was bei der Häufigkeit, mit der ich diese schwere Tropenkrankheit hatte, höchst ungewöhnlich ist. Auch über die Leberwerte ist der Arzt verblüfft und kann es kaum glauben, dass ich als fast gesund einzustufen bin. Ich erkläre ihm, dass ich mich hier in der Schweiz nie mit meiner Krankheit auseinander gesetzt hätte, sondern mich schon bald als gesund betrachtet habe. »Anscheinend hat Ihre Einstellung viel dazu beigetragen, denn Sie haben sich in der kurzen Zeit so gut erholt, wie ich es noch nie erlebt habe«, sagt er erfreut und entlässt mich als gesund.
Der Januar ist kalt und nass. Die Termine laufen nicht so gut wie in der Weihnachtszeit. Die Menschen wirken abweisend und mürrisch. Auch mein Chef meckert, dass der Umsatz höher liegen könnte. Mir dagegen ist klar, dass im Januarloch nicht allzu hohe Erwartungen gestellt werden können. Das weiß ich noch aus meinen früheren Tätigkeiten. Er müsste das ebenfalls wissen, zumal er schon über 40 Jahre im Geschäft ist, wie er mir einmal stolz mitteilte. Im Moment bin ich jedenfalls um jede kleine Bestellung froh. Im Februar geht es bestimmt wieder bergauf.
Die einzige große Abwechslung ist der Karneval, der im Dorf gefeiert wird. Napirai macht das erste Mal mit und hat sich als Hexe verkleidet. Sie zieht mit einer Freundin los und freut sich über die närrischen Dinge, die um sie herum passieren. Ansonsten hat sie sich wunderbar bei der Pflegefamilie eingelebt. Es kommt sogar vor, dass sie noch gar nicht nach Hause möchte, wenn ich erscheine, weil sie so ins Spiel mit den anderen Kindern vertieft ist. Obwohl mich das am Anfang ein wenig schmerzt, bin ich auf der anderen Seite überglücklich, dass es ihr dort so gut gefällt.
Endlich erhalte ich den maschinengeschriebenen Brief aus Barsaloi. Ich bin überwältigt, dass James das zustande gebracht hat. Die ganze Familie freue sich und Mama habe vor Rührung sogar geweint, als sie erfuhr, dass sie hier in der Schweiz offiziell in ein Familienstammbuch eingetragen werden soll. Mit allem habe ich gerechnet, nur nicht mit dieser Reaktion. So laufen auch mir Tränen über das Gesicht, während ich meine Schwiegermama plötzlich wieder sehr vermisse. Nahezu alle Fragen sind beantwortet und das Schreiben ist von der Mission gestempelt. Sie bedauern nur, dass keine Geburtsurkunde und auch kein genaues Geburtsdatum von Lketinga existieren. Aber sogar über den verstorbenen Vater bekomme ich Auskunft. Oh, wie ich mich freue und der Schwiegermama danke für ihr Verständnis!
Voller Zuversicht gehe ich zum deutschen Konsulat und präsentiere dem Herrn den Brief. Wieder füllen wir unzählige Formulare aus. Einiges, was immer noch nicht klar genug aus dem Brief hervorgeht, muss ich eidesstattlich versichern. Erneut wird alles nach Berlin geschickt und es heißt weiter abwarten. Jedenfalls wird mir klar, dass dies keineswegs der letzte Besuch im Konsulat war.