Endlich kommt der große Tag, an dem Napirai zum ersten Mal in den Kindergarten geht. Stolz trägt sie ihr Täschchen und den Sicherheitsleuchtstreifen quer über der Brust. Im Kindergarten begrüßt uns eine ältere Dame, die sich als die Kindergärtnerin vorstellt. Etliche Eltern sind schon da. Als einzige Einelternfamilie werden wir eher von der Seite her beobachtet als offen empfangen. Vor allem Napirai wird von den Kindern ungeniert beäugt, was ihr mit einem Mal nicht geheuer ist. Auf jeden Fall möchte sie nicht, dass ich sie allein zurücklasse. Solch ein Verhalten ist eher ungewöhnlich bei ihr. Gott sei Dank legt sich diese Scheu in den folgenden Tagen. Es kommt jetzt öfter vor, dass sie gleich bei der Pflegefamilie oder bei meiner Mutter übernachten will, was mich dazu verleitet, häufiger auszugehen.
So manchen Abend bin ich mit Hanni unterwegs. Erst gehen wir essen und anschließend tanzen. Anscheinend kennt diese Frau Gott und die Welt. Wo wir auch hinkommen, trifft sie Leute und ich werde wie meistens als »die aus Afrika« vorgestellt, worauf natürlich gleich eine Menge Fragen gestellt werden. Auch fünf Jahre nach meiner Rückkehr ist das Interesse an meiner Liebesgeschichte nach wie vor ungebremst, und Hanni schimpft zum wiederholten Mal, ich solle endlich alles zu Papier bringen.
Ich will meine Geschichte aufschreiben
Ihre Sticheleien zeigen langsam Wirkung und immer öfter beschäftige ich mich mit der Idee, meine Geschichte aufzuschreiben. Zögernd nehme ich eines Abends einen karierten Schreibblock und einen Bleistift zur Hand und beginne, meine Gedanken neun Jahre zurückzuschicken. Ich erinnere mich, wie ich mit meinem Partner Marco in Mombasa landete, um unseren Urlaub anzutreten, und wie mich diese Aura und die damit verbundenen Eindrücke sofort tief bewegten und ich das seltsame Gefühl hatte, als sei ich nach langer Zeit nach Hause gekommen. Ich konnte mir das zu diesem Zeitpunkt nicht erklären und so traf mich die erste Begegnung mit Lketinga tief bis in mein Innerstes und mein ganzes Lebensfundament stürzte innerhalb von Sekunden ein. Ich sah ihn, und mein bisheriges Leben existierte nicht mehr. Ja, ich sehe, spüre und rieche wieder alles, als geschähe es ein zweites Mal, und meine Hand fängt wie von selbst an, diese Eindrücke aufs Papier zu bringen. Wie ein Film läuft die Geschichte vor meinem inneren Auge ab und ich muss keine Minute überlegen, was ich schreiben soll. Es schreibt einfach! Ich merke nicht, wie die Zeit vergeht. Erst als die Finger schmerzen, schaue ich auf die Uhr und bin erschrocken, weil es schon weit nach Mitternacht ist. »Oh Gott, ich muss ins Bett. Morgen ist wieder ein arbeitsreicher Tag«, sage ich zu mir selbst und lege mich behutsam neben die schlafende Napirai. Im Bett finde ich keine Ruhe und in Gedanken schreibe ich noch weiter, bis ich endlich einschlafen kann.
Als ich am nächsten Tag nach der Arbeit meine Tochter abhole, lese ich meiner Mutter die ersten geschriebenen Seiten vor. Sie ist sehr überrascht, aber begeistert. »Willst du jetzt ein Buch schreiben?«, möchte sie wissen. Ich antworte: »Nein, nein, eigentlich möchte ich nur alles aufschreiben, damit Napirai später einmal erfährt, aus was für einer großen Liebe sie entstanden ist und warum ihre Eltern es dennoch nicht geschafft haben, zusammenzubleiben. Wenn mir etwas passieren sollte, könnte ihr niemand genaue Auskunft über ihre Herkunft geben.« Meine Mutter sucht gleich die Briefe, die ich ihr aus Afrika geschrieben habe, und gibt sie mir als Gedächtnisstütze mit.
Zu Hause bereite ich unser Abendessen vor und beschäftige mich anschließend mit Napirai. Um sieben Uhr geht sie zu Bett und ich erledige im Schnelldurchlauf meinen kleinen Haushalt. Dann endlich ist es so weit, dass ich Ruhe und Zeit habe, die am Vortag geschriebenen Seiten noch einmal durchzulesen. Innerhalb kürzester Zeit bin ich wieder in die Vergangenheit eingetaucht und schreibe automatisch weiter. Ich sehe Lketinga vor mir, während ich ihn als großen, schönen, sehr exotischen, fast femininen Mann mit sehnigem Muskelbau und wilden, glühenden Augen beschreibe. Das Licht der untergehenden Sonne verleiht seinem braunen Körper und seinem bemalten Gesicht mit den langen roten Haaren, die zu feinen Zöpfchen geflochten sind, einen besonderen Glanz. Sein langer Körper, nur mit einem roten Hüfttuch und ein paar farbigen Perlenketten bekleidet, wirkt schlicht und doch ergreifend schön. Aufs Neue empfinde ich die Bewunderung und die Anziehung, während ich meine Erinnerungen niederschreibe.
Plötzlich klingelt das Telefon. Aus der Vergangenheit aufgeschreckt, nehme ich den Hörer ab und melde mich ziemlich schroff. Es ist Madeleine, die fragt, ob sie mit einer Flasche Wein herüberkommen könne, um etwas zu besprechen. Normalerweise freue ich mich, doch jetzt möchte ich nicht in die Realität zurückgeholt werden. Schon höre ich Madeleine sagen: »Hey, Corinne, was ist los mit dir? Hast du Besuch und störe ich dich gerade?« Etwas beschämt über mein Verhalten sage ich: »Ja klar, komm rüber, ich muss dir auch etwas zeigen.« Kurz darauf klopft es an meiner Tür und Madeleine schlüpft strahlend mit einer Flasche Rotwein unterm Arm an mir vorbei ins Wohnzimmer. Auf ihre Frage, warum ich so zerstreut sei, hole ich die beschriebenen Blätter und beginne vorzulesen. Als ich fertig bin, ist sie fasziniert und meint: »Gut, wirklich gut! Aber wenn ich daran denke, wie viel Zeit du brauchen wirst, um das alles aufzuschreiben, werden wir wohl in Zukunft an den Abenden kürzer treten müssen. Auf jeden Fall bin ich gespannt, wie es weitergeht!«
Innerhalb der nächsten zwei, drei Monate verschlechtert sich in der Arbeit das Betriebsklima drastisch, so dass der »alte« Chef kündigt und die Firma verlässt, was viele, auch mich, verunsichert. Schon bald bläst ein anderer Wind im Betrieb. Einmal komme ich zur Sitzung und finde die Sekretärin vom Empfang in Tränen aufgelöst vor. Ein anderes Mal tobt ein lautes Wortgefecht. Mit den Bestellungen läuft auch nicht mehr alles rund und die ersten größeren Reklamationen seitens meiner Kundschaft treffen ein. Ich hoffe immer noch, dass sich die Lage wieder entspannen wird. Wichtiger allerdings ist mir zur Zeit mein abendliches Schreiben, das sich langsam fast zur Sucht entwickelt.
Ende August finde ich in der Post eine Einladung zu einem Klassentreffen im Oktober. Ich freue mich und bin neugierig, was aus all meinen Klassenkameraden und -kameradinnen geworden ist. Seit dem Ende der Schulzeit habe ich niemanden mehr gesehen. Besonders auf meine damalige Freundin Therese bin ich gespannt. Als ich bei dem Treffpunkt ankomme, sind schon viele ehemalige Mitschüler und Mitschülerinnen da. Dass ich zu Beginn kaum jemanden erkenne, ist mir fast peinlich. In meinem eleganten schwarzen Lederkostüm und mit den feuerroten Haaren komme ich mir ungebührlich auffallend vor. Die anderen erscheinen mir wesentlich dezenter. Nach dem Aperitif geht es zum Restaurant, wo gegessen werden soll. Es ist in Hufeisenform aufgedeckt, so dass sich die etwa 20 Teilnehmer anschauen können. Erst jetzt bemerke ich einen Neuankömmling. Das ist ja Markus! Er sitzt neben einer ehemaligen Lehrkraft. Wie schon früher in der Schule erheitert er mit seinen frechen Sprüchen die Runde und steckt alle mit seinem sonnigen, herzlichen Lachen an. Er hat sich zu einem attraktiven Mann entwickelt. Gefallen hat er mir allerdings schon in der dritten Klasse. Ich dagegen war ihm zu lang und zu dünn. Deshalb beantwortete er auch meine schwärmerischen Briefchen nicht, wie ich später erfuhr. Während des Essens unterhält er sich mit dem ehemaligen Lehrer provokativ über mein Aussehen und ruft für alle vernehmbar: »Corinne, so hättest du mir früher schon gefallen!« Worauf ich antworte: »Selber schuld, du hattest deine Chance vor 25 Jahren!« Viele lachen, einige verstehen den Witz nicht. Leider taucht meine ehemalige Freundin Therese nicht auf. Auch einige andere, die mich interessiert hätten, sind nicht gekommen. Nach dem Essen bilden sich schnell ein paar Grüppchen und es wird diskutiert, gelacht und getrunken. Markus ist der Mittelpunkt bei den Frauen. Er sieht sehr gut aus und hat eine witzige und dabei intelligente Art zu unterhalten. Auch ich lausche gespannt seinen Erzählungen. Er betreibt ein Ingenieurbüro, ist verheiratet und Vater von zwei Mädchen. Ein richtiger Musterehemann, denke ich und beneide fast ein wenig die mir unbekannte Frau, die mit solch einem Mann zusammen durchs Leben gehen kann. An diesem Abend entsteht in mir die Vorstellung, dass mein nächster Partner genauso fröhlich-strahlend, gut aussehend und selbstsicher sein sollte. Wäre er nicht verheiratet, würde ich ihm offen meine Bewunderung mitteilen. So aber verlieren wir uns aus den Augen. Noch lange nach dem Klassentreffen schwärme ich meinen Freundinnen von dieser Begegnung vor.