Napirai hat sich im Kindergarten und in der Pflegefamilie prächtig eingelebt. Sie ist ein aufgewecktes, selbstständiges, aber dennoch sehr anhängliches Mädchen. Ihre dünnen langen Beine und Arme schlingt sie öfters um mich, wenn ich sie am Abend nach Hause hole. Sie ist mein Sonnenschein und ganzer Lebensinhalt.
Langsam bereitet mir das Arbeiten Mühe, da nichts mehr richtig funktioniert. Mittlerweile haben wir häufigen Personalwechsel. Zum einen werden viele Mitarbeiter entlassen, zum anderen gehen einige, durch das Arbeitsklima mit den Nerven am Ende, von selbst. Auch ich mache mir so meine Gedanken, wie es weitergehen soll. Jetzt bin ich schon drei Jahre in dieser Firma und habe mir eine gute Kundschaft aufgebaut. Mit dem Gehalt kann ich jährlich mit meiner Tochter in Urlaub fahren und habe insgesamt einen angenehmen Lebensstandard.
Nach den Weihnachtsfeiertagen beginne ich die Arbeit eher lustlos und mit einem komischen Gefühl im Bauch. Wie üblich nach dem Jahreswechsel fahre ich zuerst in die Firma, um allen Mitarbeitern ein gutes Neues Jahr zu wünschen und um zu besprechen, was wir in Zukunft planen. Schon beim Betreten des Gebäudes merke ich, dass etwas nicht stimmt. Der Chef ruft alle vom Außendienst zu einer Sitzung zusammen und erklärt uns, dass es mit der Firma schlecht stehe, es würden Stellen abgebaut und davon sei auch der gesamte Außendienst betroffen. Ich sitze da, als hätte er mir eine Ohrfeige verpasst. Noch kein Jahr ist er im Amt und schon ist die Firma ruiniert und unsere Arbeitsplätze sind weg. Ich frage nach, wie er sich vorstelle, wieder zu neuen Aufträgen zu kommen ohne Außendienstmitarbeiter. Da antwortet er ganz unverfroren, er werde die größeren Kunden nun selbst weiterbetreuen. Die Kleinkunden müssten sich eben anpassen und in der Firma vorbeikommen. So einfach macht er sich das! Ich bin schockiert.
Immerhin kann ich noch so weit klar denken, um so ruhig wie möglich über meine Kündigungszeit zu sprechen. Ich schlage vor, dass ich bereits vereinbarte Termine noch wahrnehme, aber keine neuen Geschäfte mehr angehe, während die Firma mir für die dreimonatige Kündigungsfrist mein Grundgehalt auszahlt, da es nichts Schlimmeres in dieser Situation gibt, als ohne Überzeugung verkaufen zu müssen. Am Ende sind wir wohl beide froh, uns gütlich getrennt zu haben.
Auf dem Heimweg fahre ich wie betäubt durch die Gegend. Ich kann nicht glauben, wie schnell sich das Blatt in der Firma gewendet hat. Ob ich genügend Kraft und Lust haben werde, ein viertes Mal von vorne zu beginnen, weiß ich im Moment nicht. Da ich das starke Bedürfnis habe, mit jemandem Vertrauten meine Lage zu besprechen, besuche ich unterwegs meine Freundin Anneliese. Sie ist diejenige, die netterweise meine handgeschriebenen Manuskriptseiten in den Computer tippt und immer ungeduldig auf Nachschub wartet. Aber auch nach diesem Besuch fühle ich mich müde und orientierungslos und fahre deshalb zu meiner Mutter, die sich ebenfalls mein Schicksal anhören muss. Sie macht ein bekümmertes Gesicht, gibt jedoch zu bedenken: »Bis jetzt hast du doch immer so viel Glück gehabt. Du schaffst das schon wieder und hast sicher schnell einen neuen Job! Lass dich nicht entmutigen!« Zum ersten Mal bin ich mir darüber nicht mehr so sicher und langsam kommt es mir vor, als würde ich jedes Mal um die Früchte meiner Arbeit betrogen.
In den folgenden Tagen nehme ich das Arbeiten lockerer und bin um jeden abgehakten Termin froh. Bei einigen Kunden gehe ich persönlich vorbei, um mich zu verabschieden. Viele sind enttäuscht über die Situation und kündigen an, ohne meine Betreuung nichts mehr zu bestellen. Inzwischen bemühe ich mich bereits um eine neue Arbeit und studiere die Stelleninserate, finde aber nichts auch nur annähernd Passendes. So vergehen die restlichen Tage wie im Flug und plötzlich stehe ich ohne Job da. Ich hätte nie geglaubt, dass mir so etwas in der Schweiz passieren könnte. Nun bleibt mir nach sechs Jahren Vollzeitarbeit erstmals keine andere Wahl, als mich arbeitslos zu melden. Der Gang zur Gemeinde fällt mir sehr schwer. Doch entgegen allen Vorurteilen werde ich zumindest höflich und nett behandelt. Ich erfahre, dass ich zuerst eine Frist abzuwarten habe, bevor ich Ende des zweiten Monats 80 Prozent meines durchschnittlichen Verdienstes bekomme. Der Spesenzuschuss für mein Auto wird dabei nicht anerkannt und so belastet mich mein Leasingvertrag zusätzlich. Aber irgendwie wird es schon gehen, denn ich kann meine Ansprüche reduzieren. Noch bin ich überzeugt, schnell wieder Arbeit zu finden, obwohl ich keine genaue Vorstellung habe, welcher Art sie sein könnte. Es ist wie verhext, denn der Arbeitsmarkt scheint zur Zeit wie ausgetrocknet. Auch ein erneutes Inserat bringt keinen Erfolg, dafür aber beträchtliche Ausgaben.
Nachdem ich den ersten Schock überwunden und falsche Hemmungen abgelegt habe, genieße ich die neu gewonnene Freizeit mit Napirai. Mittags koche ich mit viel Liebe für uns und erfahre endlich aus erster Hand die Vorkommnisse und Geschichten aus dem Kindergarten. Vorher hatte ich die großen und kleinen Aufregungen, wenn überhaupt, nur über die Tagesmutter mitbekommen. Diesen Kontakt lassen wir auf keinen Fall abbrechen. Wenn ich Vorstellungsgespräche habe, verbringt Napirai nach wie vor die Zeit bei ihr, denn ich rechne mit einer baldigen Anstellung. Nach zweimonatiger Arbeitslosigkeit jedoch schwinden meine Hoffnungen und ich spüre deutliche Anzeichen von Mutlosigkeit.
In dieser Zeit gibt mir eine Freundin die Adresse einer Kartenlegerin. Obwohl ich davon nicht wirklich überzeugt bin und mir diese zusätzliche Ausgabe eigentlich nicht leisten kann, gehe ich zu ihr, in der Hoffnung, irgendeinen Hinweis über meine berufliche Zukunft zu bekommen. Sie ist etwa 70 Jahre alt und lebt in einem kleinen, alten Haus. Der ganze Garten und alle Fenstersimse sind mit Zwergen dekoriert. Bei diesem Anblick muss ich schmunzeln und trete in gebückter Haltung in das niedrige Wohnzimmer, das mit Fotos, künstlichen Blumen und sonstigem Kitsch überladen ist. Ich setze mich der alten Frau gegenüber an den Stubentisch und bin sehr neugierig, was nun geschehen wird. Zwar bin ich durchaus skeptisch, doch ohne es auszuprobieren, möchte ich das Ganze nicht verurteilen. Während ich die Karten ziehe, setzt sich eine rötliche Katze auf meinen Schoß, und ich habe nun wirklich den Eindruck, in einem Hexenhäuschen zu sitzen. Ich ziehe Karten, eine um die andere, und die Frau beginnt mit der Deutung. Ohne dass ich ihr etwas erzählt hätte, stellt sie als Erstes fest, dass ich wohl mit einem Kind alleine lebe und dies auch noch länger so bleiben wird. Na ja, wegen der Liebe bin ich ja auch nicht gekommen. Ich will wissen, wie es mit einer Arbeit weitergeht und in welche Richtung. Sie schaut immer wieder auf die Karten und bemerkt sachlich, aber doch erstaunt, dass ich eine verrückte Vergangenheit im Ausland gehabt haben muss, die mich bis heute außergewöhnlich stark beschäftigt. Sie schaut mich an und fragt, ob ich viele Briefe schreibe oder auf andere Weise mit der Vergangenheit nicht abschließen könne. Ich antworte kurz, dass ich gerade dabei sei, mein Leben, das ich mit dem Vater meiner Tochter in Afrika geführt habe, aufzuschreiben. »Möchten Sie denn ein Buch schreiben?«
»Ja, aber ob ich es veröffentlichen will, weiß ich noch nicht«, antworte ich ehrlich. Sie hört, wie mir scheint, nicht sehr interessiert zu, sondern mischt noch einmal die Karten, worauf ich wieder welche ziehen soll. Nun wird sie lebendig und meint: »Ich kann nur sagen, machen Sie unbedingt weiter so! Das wird ein großer Erfolg werden, ja, ich sehe sogar, weit über unsere Schweizer Grenzen hinaus!« Lachend wende ich ein: »Ja, ja, kann schon sein, aber das ist noch ein langer Weg. Wie sieht es denn mit einem greifbaren Job in unmittelbarer Zukunft aus?«