Als mein Verleger und sein Begleiter, beeindruckt von ihren Begegnungen, über die Reise berichten und ich dabei die gemachten Fotos anschaue, kämpfe ich mit den aufsteigenden Tränen. Ich rieche die Menschen, das Land und sehe alle Details vor mir, die sie mir nicht zu beschreiben brauchen. Natürlich sind alle, wie auch ich, älter geworden. Aber die Unruhen, der Hunger, das harte Leben auf der ständigen Flucht und vielleicht nicht zuletzt auch die Geschichte mit mir haben sie schneller altern lassen. Lketinga ist ein graziöser, älterer »Mzee« geworden. Doch die Narben von seinem Autounfall und wohl auch der frühere Alkoholkonsum haben sein Gesicht gezeichnet. Beim Betrachten der Fotos suche ich fast vergeblich nach meinem »Halbgott« von einst.
Im August löse ich mein Versprechen gegenüber meiner Freundin Anneliese ein und wir fliegen zusammen mit Napirai in einen feudalen Jamaika-Urlaub. Wie in vielen Prospekten dargestellt, residieren wir direkt am blauen Meer mit schönem Palmenstrand. Dennoch ergreift mich persönlich dieses Land nicht. Sicherlich trägt dazu auch bei, dass ich Markus vermisse, mit dem ich erst seit knapp vier Monaten zusammenlebe. Aber automatisch vergleiche ich jedes Mal das Ferienland, in dem ich mich gerade befinde, mit Kenia, und bis jetzt habe ich keines gefunden, das in mir ähnlich starke Eindrücke auslöst. Manchmal frage ich mich, ob ich es heute immer noch so empfinden würde.
Trotzdem bewirkt diese Reise etwas sehr Positives. Ich hatte mir schon zu Hause vorgenommen, mit dem Rauchen aufzuhören, da Markus Nichtraucher ist. Den langen Flug wollte ich dazu nutzen, in einem entsprechenden Entwöhnungsbuch zu lesen, damit der Flug besser auszuhalten ist. Schon die ersten Seiten zeigen eine positive Wirkung und ich verspüre keinerlei Lust auf Zigaretten, während Anneliese leidet. Ich weiß, es ist furchtbar, wenn sich alle Gedanken nur noch um Zigaretten drehen. Kaum gelandet zündet sich meine Freundin einen Glimmstängel an, als auch schon ein bewaffneter Polizist neben uns steht und sie anfaucht: »No smoking at the airport!« Nach über 20 Stunden, in denen sie nicht rauchen konnte, löscht sie entnervt die Zigarette. Mir macht es seltsamerweise immer noch nichts aus. Was da in meinem Kopf klick gemacht hat, ist mir nicht ganz klar, aber das Buch hat sicherlich viel dazu beigetragen. Ich probiere während des Urlaubs noch einmal zwei Zigaretten, bevor ich mich definitiv, nach vielen Jahren intensiven Rauchens, davon abwende. Es ist ein ruhiger erholsamer Urlaub, den ich dennoch gerne wieder beende.
Mittlerweile erscheinen immer mehr Übersetzungen meines Buches. In Frankreich, Italien, Holland, in allen skandinavischen Ländern, in Israel, ja sogar in Japan wird es in den kommenden zwei Jahren übersetzt. Bis heute sind es fünfzehn Sprachen und weitere sollen folgen. Wer hätte das gedacht! Vor allem die Gesichter der Lektoren, die mich mit banalen Absagen abgespeist hatten, möchte ich manchmal gerne sehen, obwohl ich normalerweise nicht zur Schadenfreude neige. In fast allen Ländern klettert das Buch auf die Bestsellerlisten und ich bekomme nun Briefe aus der halben Welt. Manchmal fliege ich zu den Premieren ins Ausland, um das Buch persönlich vorzustellen, gebe Interviews für verschiedene Zeitungen und Journale oder trete im Fernsehen auf.
Als ich im November wieder einmal von einer Tour nach Hause komme, fällt mir Napirai in die Arme und klagt: »Mama, warum musst du immer noch wegfahren? Jetzt wissen doch alle Bescheid. Wir haben doch schon so viele Fotos gemacht. Ich möchte nicht, dass du wegen diesem doofen Buch immer fort musst!« Sie sagt das so traurig und anklagend, dass ich nicht lange überlegen muss, um dem Verlag mitzuteilen, dass ich trotz der großen Nachfrage für Lesungen im kommenden Jahr vorläufig nicht mehr zur Verfügung stehe. Ich möchte dieses Weihnachten wieder einmal genießen, und zwar mit Napirai und Markus. Auch er spürt manchmal meine Hektik und deshalb haben wir auch schon die ersten Turbulenzen erleben müssen. Er hat es wirklich nicht immer leicht. Es gibt Tage, da rufen mich wildfremde Verehrer bis spät in die Nacht hinein an und lassen sich erst durch energisches Zurechtweisen abwimmeln. Oder wir essen in einem Restaurant und alle halbe Stunde kommt jemand an den Tisch und spricht über das Buch, ohne Rücksicht darauf, ob wir vielleicht gerade in ein persönliches Gespräch vertieft sind oder die volle Gabel zum Mund führen wollen. Einfach ist das für ihn bestimmt nicht. Nein, ich möchte nichts aufs Spiel setzen, weder meine Fürsorge und das gute Verhältnis zu Napirai noch meine Zuneigung und Liebe für Markus.
Aber es ist mein »Beruf« und zum Erfolg gehört auch diese Seite. Natürlich weiß ich, dass die meisten Leser und Leserinnen es mit dieser Aufmerksamkeit nur gut meinen. Dennoch beschließe ich auf dem vorläufigen Höhepunkt des Bucherfolges den Rückzug. Ich brauche etwas Zeit, um wieder in mich zu gehen und zu überlegen, was danach kommt, denn mir ist klar, dass mein Autorinnendasein zeitlich begrenzt ist. Eine Fortsetzung zu schreiben, was viele Leser sich wünschen, kommt für mich nicht in Frage, denn ich möchte, dass wieder etwas mehr Ruhe in mein Leben einkehrt. Doch dann erscheint Anfang März 2000 die Taschenbuchausgabe und der Rummel beginnt von vorne, da es auch hier schnell an die Spitze der Sellerlisten klettert. Deshalb gehe ich noch zu einzelnen ausgesuchten Veranstaltungen und TV-Auftritten.
Die meiste Zeit aber verbringe ich nun zu Hause und koche für meine kleine Familie. Außerdem beginne ich wieder, die Natur zu genießen und unternehme lange ausgedehnte Wanderungen, bei denen es mir nichts ausmacht, auch allein unterwegs zu sein. Ein kleiner Fotoapparat ist dafür mein ständiger Begleiter und so kann ich mich über die festgehaltenen Bilder von Landschaften, schönen Steinformationen und Pflanzen jeder Art erfreuen. Und weil mich plötzlich die Lust am Motorradfahren packt, kaufe ich mir einen starken Motorroller und lege später die Prüfung ab. Markus lässt sich ebenfalls motivieren und bald düsen wir, wenn es die Zeit erlaubt, über die Schweizer Pässe. Manchmal schließt sich Napirai an, doch ist sie nun in dem Alter, in dem sie lieber den Kopf mit Freundinnen zusammensteckt. Ja, ich spüre, es geht ein langsamer Wandel in mir vor, doch weiß ich noch nicht, wohin er mich führen wird.
Aus Kenia bekomme ich regelmäßig Briefe und wir schicken uns des Öfteren Fotos. James hat inzwischen geheiratet. Obwohl das Mädchen wie James die Schule besucht hat, wurde auch sie vor der Hochzeit beschnitten. Als ich das lese, wird mir wieder bewusst, dass die Traditionen der Samburu stärker als jede Bildung sind. Im Oktober bekommt sie, wie ich aus einem anderen Brief erfahre, ein gesundes Mädchen. Lketingas Frau dagegen hatte die zweite Fehlgeburt und muss wegen der daraus folgenden Komplikationen demnächst in ein Spital gehen. Lketinga ist traurig, dass sie immer wieder ihre Kinder verlieren. Bis jetzt überlebte nur das erstgeborene Mädchen.
Ein weiteres Mal schreibt James einen langen Brief, in dem meine Schwiegermama einen Abschnitt für mich diktierte:
Gogo von Napirai ist nun sehr alt, aber sie verspricht, den Rest ihres Lebens für dich und Napirai zu beten. Ich will nicht vergessen, was du, Corinne, für mich getan hast. Du hast dich immer um mich gesorgt, das Feuerholz für mich geholt, das Wasser für mich geschöpft, das Essen für mich gekocht, die Kleider für mich gewaschen und vieles, vieles mehr. Ich werde dich immer tief in meinem Herzen haben.
Zehn Jahre, nachdem ich sie zum letzten Mal gesehen habe, bewegen mich solche Worte auch heute noch tief und ich spüre, dass wir nach wie vor miteinander verbunden sind. Ich erinnere mich an unsere erste Begegnung in Barsaloi und sehe, wie Mama in die Manyatta kriecht, um mich und Lketinga streng und düster zu mustern. Erst nach langen Minuten streckte sie mir damals ihre dunkle Hand entgegen und sagte lachend und für mich erlösend: »Jambo.« Auch wenn ich alles Weitere aus ihrem Wortschwall nicht mehr verstand, spürte ich doch ihr Einverständnis und empfand ihr gegenüber sogleich tiefe Sympathie.