Schon vor sechs Uhr bin ich wach. Draußen ist es klar und der Kilimandscharo-Gipfel scheint zum Greifen nahe. Wir befinden uns direkt darunter. Wieder habe ich den Eindruck, als sei Farbe oder Milch über den Kopf des Berges geschüttet worden. Er sieht so ganz und gar anders aus als unsere Schweizer Schnee- und Gletscherberge. Wahrscheinlich liegt es daran, dass er ein Vulkan ist. Heute fühle ich mich stark und ausgeruht und freue mich richtig aufs Weiterwandern. Wieder steht ein Akklimatisationstag bevor und deshalb werden wir durch verschiedene kleinere Täler hinauf- und hinuntersteigen. Beim Frühstück teilt uns Franz endgültig mit, dass er, begleitet von einem Hilfsführer, umkehren wird. Er hat gemerkt, dass der Gipfel für ihn nicht zu erreichen ist, und möchte nichts mehr riskieren. Er will in unsere Ankunftslodge zurückkehren und eventuell eine Safari zum Ngorongoro Krater buchen. Für seinen Sohn Hans ergibt sich daraus der Vorteil, dass er nun zwei Schlafsäcke zur Verfügung hat und so die Nächte besser durchstehen kann. Vor unserem Abmarsch machen wir noch ein letztes gemeinsames Foto mit der gesamten Mannschaft, da nun auch von den Führern ein Teil zurückgehen muss.
Wir marschieren los und lassen die letzten palmenartigen Senecien hinter uns. Schon bald führt der Weg in die Felsen hinein und wir klettern zum Teil mit Händen und Füßen langsam nach oben. Die Stöcke sind wieder einmal eher hinderlich. Ansonsten gefällt mir diese Kraxelei sehr gut, weil es eine schöne Abwechslung ist. Nun habe ich auch keine Zeit mehr, ständig in mich hineinzuhören, ob es mir noch gut geht. Wieder zieht die Trägerkolonne an uns vorbei. Heute staune ich noch mehr über ihre Künste, wie sie sich, die schweren Lasten auf dem Kopf balancierend, geschickt in diesem steilen und felsigen Gelände bewegen. Sie können, im Gegensatz zu uns, die Hände nicht zur Hilfe nehmen, da sie damit ihre Körbe, Taschen oder Pfannen festhalten. Außerdem sind sie fast doppelt so schnell wie wir. Wir lassen sie passieren und ich studiere ihre Ausrüstung. Einige haben viel zu große Schuhe an den Füßen und andere offene Schuhbänder. Am Rucksack haben sie die rohen Eier in einem dünnen Pappkarton befestigt. Damit müssen sie sich durch Felsen zwängen, durch die wir kaum mit unserem Tagesrucksack passen. Ich möchte nicht wissen, was ihnen geschähe, wenn die Eier im Camp kaputt eintreffen würden. Bei diesen Gedanken steht für mich fest, dass ich allen Trägern zusätzlich ein schönes Trinkgeld geben werde. Sie sind für mich die wahren Helden am Kilimandscharo.
Nach einer längeren Pause auf einer Anhöhe von 4.250 Meter geht es nach einer kurzen Geraden in ein Tal hinunter und auf der anderen Seite erneut hoch. Dies wiederholt sich noch einige Male. Hans und mir gefällt es sehr gut und wir sind voller Tatendrang. Die anderen sind nach einiger Zeit etwas enttäuscht, weil sie nicht auf diese vielen Auf- und Abstiege eingestellt waren. Ab und zu unterhalte ich mich mit Hans. Er will immer noch nicht begreifen, warum sein Vater die Gruppe verlassen hat. Etwas vorwurfsvoll sagt er: »Schließlich waren es ja seine Idee und seine Besessenheit, diesen Berg zu besteigen. Und weil er niemand anderen begeistern konnte, musste ich, der Sohn, unbedingt mit. Nun quäle ich mich auf einen fast 6.000 Meter hohen Berg, auf den ich nie wollte, während mein Vater locker zu einer Safari fährt.« Über seine trockene, nüchterne Art muss ich immer wieder lachen. Seit er ebenfalls allein ist, kommen wir häufiger ins Gespräch.
Nach guten viereinhalb Stunden Laufzeit erreichen wir das Karanga Camp gerade noch rechtzeitig, um uns vor dem ersten richtigen Regenschauer in unsere Zelte zu flüchten. Das Wetter wechselt hier oben ständig. Einmal ist es richtig warm und kurz darauf ziehen Nebel auf und man ist froh, noch eine Jacke oder einen Pulli dabei zu haben. Vom Kilimandscharo sehen wir im Moment nichts, er bleibt im Nebel und Regen versteckt. Die Trägermannschaft verkriecht sich ins Essens- und Küchenzelt. Ich freue mich, dass ich wieder eine Handy-Verbindung zur Schweiz habe, und sende einige SMS an Napirai und Markus, die freudig und erleichtert beantwortet werden. Da noch viel Zeit bis zum Abendbrot bleibt, beginne ich ein Buch zu lesen, das mir meine Mutter mitgegeben hat. Es fesselt mich vom ersten Moment an. Darin beschreibt eine Frau, wie sie mit dem Fahrrad durch China, Nepal und Indien gereist ist. Sie fuhr unter anderem auf über 5.000 Meter hohe Berge, wobei ihr Rad in Schnee und Eis eingefroren ist. Während ich die Bilder betrachte, wächst in mir die Sicherheit, dass unser Ziel wesentlich leichter zu erreichen sein sollte. Nach zwei Stunden krieche ich aus dem Zelt und freue mich, dass die Sonne wieder scheint. Die Mannschaft wäscht sich in der Abendsonne. Dafür warten wir heute vergeblich auf unser Waschwasser. Ich behelfe mich mit Feuchtigkeitstüchern und kann mir das Erfrischungsspray von Petra ausleihen. Ihre Ausrüstung die Hygiene betreffend ist wirklich erstaunlich. Dafür habe ich allerdings einige schwarze Ränder unter den langen Fingernägeln, die sich mit dem spärlichen Wasser eben nicht besser pflegen lassen. Überhaupt sehen meine Hände mit den zum Teil abgebrochenen Fingernägeln aus, als hätte ich, wie damals in Barsaloi, Kochtöpfe ausgekratzt.
Nachdem die Sonne scheint, taucht auch der Kilimandscharo wieder aus dem Nebel auf. Hans und ich nutzen die Gelegenheit und wir machen von uns gegenseitig ein paar schöne Fotos mit dem eindrucksvollen Berg im Hintergrund. Wieder frage ich mich, ob überhaupt jemand und wer von uns da oben ankommen wird. Plötzlich habe ich das Gefühl, dass ich doch mit der Routenänderung einverstanden sein sollte. Ich möchte nicht, dass meinetwegen vielleicht jemand nicht auf dem Gipfel ankommt. Zudem wäre es dann für mich ein »Muss«, bis zum Uhuru Peak durchzuhalten. Beim Essen gebe ich meine Zustimmung bekannt und sofort sind alle erfreut. Am glücklichsten sind, wie ich später von einem Hilfsführer höre, die Träger, da sie unsere Lasten weniger weit schleppen müssen.
Am nächsten Morgen stehen wir bei schönstem Sonnenschein auf. Der Kilimandscharo ist in der Nacht, wie mir scheint, noch näher gerückt. Ich habe nicht den Eindruck, dass wir noch fast 2.000 Höhenmeter vom Gipfel getrennt sind. Zum Frühstück gibt es unter anderem wieder herrliche Pfannkuchen, getoastete Brotscheiben und Wassermelone. Ich esse viel, weil ich endlich wieder richtig Hunger verspüre. Außerdem liegen ein anstrengender Tag und die Nacht, in der der Gipfelsturm vorgesehen ist, vor uns.
Bis zum Barafu Camp sind etwa 600 Höhenmeter zu überwinden. Zu Beginn geht es gemächlich los. Hier enden allmählich die letzten Pflanzenspuren und wir wandern nur noch durch Lavasteine unterschiedlichster Größe. Einzelne Wegabschnitte sehen wie angehäufte grau-schwarze Tonscherben aus. Alles Leben scheint hier oben abgestorben zu sein, wie in einer Mondlandschaft. Nur zwei Mal beobachte ich, wie sich eine kleine schwarze Spinne vor unseren Füßen in Sicherheit bringt. In weiter Ferne sehen wir die Träger die letzte Anhöhe vor unserem angestrebten Camp aufsteigen. Mir schwant Böses. Tatsächlich gibt uns der letzte, sehr steile Aufstieg einen Vorgeschmack auf die heutige Nacht! Immer wieder müssen wir Pausen einlegen, wenn wir das Gefühl haben, dass nichts mehr geht. Ich bin froh, permanent an meinem Trinkschlauch saugen zu können, um wenigstens gegen das Durstgefühl anzugehen. Mit enormem Energieverbrauch schleppen wir uns nach drei Marschstunden und guten 600 überwundenen Höhenmetern in das auf 4.540 Meter gelegene Camp. Es ist das steinigste, windigste und vor allem auch das dreckigste von allen. Die Träger haben unsere Zelte zu weit unten aufgestellt und springen nun vor uns her, um die neuen Plätze vor unserer Ankunft hergerichtet zu haben. Mir ist nicht klar, wie die Männer es schaffen, in dieser Höhe noch von Stein zu Stein zu hüpfen, während sie das aufgespannte Igluzelt, gegen den Wind ankämpfend, vor sich hertragen. Erschöpft stapfen wir zu unseren Plätzen, um neben dem Zelt ausruhen zu können. Im Lager befinden sich die Leute, die heute früh vom Gipfel zurückgekommen sind. Ein sportliches Paar sitzt völlig fertig auf einem Felsen. Ich frage nach, wie es ihnen ergangen ist und ob sie oben waren. Als Antwort erhalte ich nur ein Nicken und die Worte: »Sehr anstrengend.« Dann entdecken wir noch einen älteren Herrn, der erst jetzt, also kurz vor halb eins, von oben heruntergetorkelt kommt. Bei uns in der Schweiz würde man bei einem solchen Anblick sagen: »Der geht auf dem Zahnfleisch.«