Die Attraktion in diesem Camp ist das Toilettenhäuschen. Es steht über einem endlosen Abgrund. Zudem sieht es wackelig und verwittert aus und wirkt nicht gerade Vertrauen erweckend. Darüber kreisen riesige schwarze Bergdohlen, die das Häuschen nicht aus den Augen lassen. Das Ganze erklärt wohl, warum die Gegend hier so verschmutzt ist. Auch die zwei Hütten, die zum Übernachten dienen, passen überhaupt nicht in diese Mondlandschaft. Sie sehen aus wie zwei grüne Blechdosen. Immerhin kann ich hier für nur zwei Dollar eine Coca Cola kaufen und lasse sie mir reservieren, um sie nach dem Gipfelsturm sozusagen als Champagner zu mir zu nehmen. Danach treffe ich auf eine Frau, die gerade aus ihrem Zelt kriecht. Auch sie frage ich nach ihrem Gipfelerlebnis. Sie hat es nicht geschafft und hat diesem »blöden Berg«, wie sie sagt, auf 5.100 Meter den Rücken gekehrt. Sie hat nicht eingesehen, warum sie sich noch weiterquälen soll, zumal ihr das Trinkwasser, obwohl warm verpackt, eingefroren ist. Die Berichte sind nicht gerade aufmunternd.
Hans stellt zum wiederholten Mal fest, dass seine Ausrüstung nicht den Anforderungen genügt. Er besitzt keine Thermosflasche und weiß nun, dass auch der heißeste Tee nach ein paar Stunden eingefroren sein wird. Da der Rentner, der früher bereits zwei Mal auf dem Gipfel war, das nächtliche Spektakel nun doch nicht mehr mitmachen möchte, kann Hans zumindest seinen Wärme haltenden Flaschenüberzug benutzen. Er bekommt auch den Höhenmesser, damit wir uns in der Nacht orientieren können.
Beim Mittagessen verzehre ich die Spaghetti mit großem Appetit. Kam ich vor einer Stunde noch völlig erschöpft hier an, so habe ich mich nach ein paar Minuten in der Sonne erstaunlich schnell erholt. Am Tisch wird natürlich nur von dem bevorstehenden Aufstieg gesprochen. Alle sind wir etwas nervös, zumal die Auskünfte der Absteigenden nicht sehr ermutigend waren. Um Mitternacht soll es losgehen, also bleiben uns geschlagene zehn Stunden, die wir in dieser unwirtlichen Gegend hinter uns bringen müssen. Einige von uns nutzen den Nachmittag, um zu schlafen. Der Rentner steigt noch etwas höher hinauf und ich lese in meinem spannenden Buch weiter. Je mehr ich lese, umso ruhiger werde ich. Ich staune über die mutige Frau und ihre Erlebnisse und gleichzeitig erinnere ich mich an meine zum Teil sehr harte Zeit in Afrika. Was habe ich nicht alles unternommen und welch strapaziöse Fahrten in Kauf genommen, genau wie diese Frau in Nepal. Vielleicht wird man erst in solchen Ländern so stark, weil man sonst nicht den Hauch einer Chance hat, ans Ziel zu kommen. Während des Lesens verstärkt sich immer mehr die Gewissheit, dass ich heute Nacht den Uhuru Peak erreichen könnte. Diese Erkenntnis beruhigt mich sehr.
Die Zeit schleicht langsam dahin. Ich warte schon wieder auf das Abendessen, das heute eine Stunde früher serviert wird, damit wir noch Zeit zum Schlafen haben. Im Camp ist es ruhig geworden, da die meisten Leute weiter nach unten marschiert sind. Außer uns warten nur noch zwei kleinere Gruppen auf den Nachtmarsch. Endlich ist es so weit, dass wir die letzte Stärkung zu uns nehmen können. Hans meint trocken: »Kommt mir vor wie die Henkersmahlzeit.« Stunden später werden wir wissen, wie nahe an der Wirklichkeit er mit seiner Vermutung lag. Es werden köstlich gebratene Hühnerbeine und Kartoffelsalat serviert. Mit großem Hunger esse ich alles, was angeboten wird. Der Führer gibt uns die letzten Anweisungen, wobei er uns ermahnt, alles, was wärmt, anzuziehen, denn es werde sehr kalt sein. Ich kann mir kaum vorstellen, mit so vielen Pullovern, Jacken und der zusätzlichen extrawarmen Unterwäsche loszumarschieren, da ich normalerweise schnell schwitze. Doch ich befolge den Rat und bin Stunden später dankbar dafür.
Ich liege im Zelt und lese noch ein wenig. Zwischendurch mache ich mir bereits Gedanken, wie viel Trinkgeld ich den Trägern am Ende geben werde. Außerdem möchte ich ein paar Worte an sie richten und überlege, was passend sein könnte. Gegen neun Uhr höre ich Wind aufkommen, doch langsam werde ich müde und döse wohl kurz ein. Um viertel nach elf werden wir geweckt. Ich ziehe mir schnell die restlichen Kleider an, die sich zum Wärmen im Schlafsack befinden. In die Wanderschuhe puste ich ein paar Mal meinen warmen Atem hinein, damit sie nicht ganz so kalt sind. Dann werden Mütze und Handschuhe angezogen, die Stirnlampe umgebunden und schon bin ich bereit. In meinem Tagesrucksack befinden sich mein Fotoapparat, zwei Thermosflaschen mit Flüssigkeit, ein paar Trockenfrüchte und zwei Scheiben Vollkornbrot. Auch meine Regenhose bleibt vorläufig im Rucksack.
Bevor es nun endlich ins Ungewisse losgeht, treffen wir uns alle zu einem wärmenden Tee. Wir Frauen müssen als Erste direkt hinter dem Führer gehen. Petras Stirnlampe funktioniert nach kurzer Zeit kaum noch, also bleibe ich hinter dem Führer. Wir marschieren sehr langsam. Sehen können wir nur, was gerade vor unseren Füßen liegt. Von Anfang an ist der Weg sehr steil. Obwohl der Wind heftig an den Kleidern zerrt, muss ich nach einer halben Stunde bereits eine Jacke und einen Pullover ausziehen. Ich habe Durst, mir fehlt die ständige Trinkmöglichkeit mit dem Schlauch. Heute Nacht habe ich ihn nicht dabei, denn er würde einfrieren. Es geht weiter, doch es ist sehr anstrengend. Hans hat Kopfschmerzen. Bald muss ich anhalten und meine Kleider wieder anziehen, weil der Wind zugenommen hat. Es wird rapide kühler. Nach einer oder auch zwei Stunden, so genau weiß man das nicht, fragt sich jeder von uns, warum er hier ist. Wegen des Windes höre ich nicht viel von meinen Mitstreitern hinter mir. Nur ab und zu ertönt ein »Scheiße«. Vor uns geht eine andere kleine Gruppe. Wenn ich nach oben schaue, wird mir fast schlecht. So weit ich sehen kann, erkenne ich nur den schwarzen Berg. Von einem Ziel ist nichts zu sehen, dafür wird es immer steiler und die Serpentinen immer enger. Da der Wind zunimmt, wird es noch kälter, meine Finger frieren fast ein. Überall erkenne ich herumliegende Papierfetzen oder laufe an Erbrochenem vorbei. Eine Frau kommt uns entgegen. Sie ist auf dem Rückweg. Ihre Bergkleidung scheint mir den Temperaturen schlecht angepasst zu sein und auch der Teddybär-Rucksack auf ihrem Rücken kommt mir fehl am Platz vor. In immer kürzeren Abständen werden Pausen gemacht, wobei ich mich jedes Mal sofort hinsetzen muss. Doch es wird noch schlimmer. Je höher wir kommen, desto schwerer wird das Atmen. Petra geht es nicht gut und sie hat Durchfall. Ich frage mich erneut, was ich hier am Berg eigentlich zu suchen habe. Die Stimmung ist sehr schlecht. Petra möchte anscheinend umkehren, doch kann sie vom Hilfsführer noch einmal motiviert werden. Wir stapfen Schritt um Schritt weiter. Hans schaut auf seinen Höhenmesser. Seine Auskunft, dass wir noch nicht einmal bei 5.000 Meter angekommen sind, ist äußerst deprimierend. Es wird immer kälter und windiger. Ich presse die Augen zu kleinen Schlitzen zusammen, damit sie nicht tränen. Der Nachteil ist, dass ich mich müder fühle und die Augen am liebsten gar nicht mehr öffnen möchte. Ich schleppe mich weiter. Der Führer sucht immer wieder nach dem Weg. Mein ganzes Denken dreht sich nur noch darum, wie schlecht und total entkräftet ich mich fühle. Der Führer sagt uns: »Denkt nicht an den Berg! Ihr müsst euren Kopf frei machen vom Berg! Denkt an zu Hause in Deutschland oder sonst wo!« Ich versuche es und sehe das Bild meiner Tochter vor meinen Augen. Plötzlich höre ich eine mir fremde Stimme ihren Namen rufen, nein stöhnen. Immer wieder vernehme ich: »Napirai, Naaapirai.« Dann realisiere ich, dass ich es bin, die so laut vor sich hinstöhnt. Meine Stimme ist mir fremd und viel zu dunkel. Ich muss mich hinsetzen und sofort Tee trinken. Ich habe das Gefühl, ich verdurste. Petra und ihr Lebensgefährte wollen nicht mehr weiter. Sie friert schrecklich und sitzt mit einem Heulkrampf am Boden. Der Wind bläst fürchterlich und wir bringen kaum die Augen auf. Die Führer raten ihr, ihre Regenhose überzuziehen. Doch sie macht keine Bewegung mehr und möchte nur noch hinunter. Ihr Partner und zwei der Hilfsführer ziehen ihr die zusätzlichen Hosen über, bevor sie sich mit ihr auf den Rückweg begeben. Hans hat in der Zwischenzeit hinter einen Stein gekotzt. Eigentlich wollte er auch zurück, ist aber nun dank des vom Führer gereichten Tees soweit wieder in Ordnung. Wir sind gerade mal knapp auf 5.200 Höhenmeter. Das bedeutet, wir haben erst die Hälfte geschafft und haben noch 695 Höhenmeter vor uns. Ich weiß nicht, wie ich die noch erklimmen soll. Aber hier möchte ich nicht umkehren! Der Führer, Hans und ich gehen weiter. Hans schwankt bedenklich. Wir kämpfen um jeden Meter. Mittlerweile schleppe ich mich mehr, auf die Stöcke gestützt, mit den Armen nach oben, als dass ich noch kräftig laufen könnte. Nach jeweils 20 Schritten muss ich pausieren, sonst falle ich fast um. Ich bin dann so erschöpft, dass ich keinen Schritt mehr machen kann. Doch nach zwei oder drei Minuten bin ich für einen kurzen Moment wieder fit. Auch mein Verstand ist dann völlig klar. Wenn wir jedoch weiterstapfen, ist die Energie nach ein paar Schritten erneut zu Ende. Immer häufiger höre ich mich mit der mir fremden Stimme stöhnen. Ich kann es nicht beeinflussen. Je schwächer ich werde, desto lauter ist mein Singsang. Einmal stöhne ich »Mama«, ein anderes Mal rufe ich nach Napirai oder meinem Schatz. Dann versuche ich, die Schritte zu zählen oder klopfe nach jedem Schritt die Schuhe gegeneinander. Einfach etwas machen, das ablenkt! Ansonsten ist man nur mit seinem schlechten und erschöpften Zustand beschäftigt.