Выбрать главу

Wir sind nun sicher schon fünf Stunden am Steigen und immer noch ist alles schwarz, wenn ich nach oben schaue. Ich sage dem Führer, dass ich höchstens bis Stella Point gehen werde. Wie weit ist es denn noch, verdammt noch mal!? Doch er gibt immer die gleiche Antwort und die schon seit Stunden: »Nicht mehr weit!« Ich bin mir sicher: Weiter als bis Stella Point werde ich nicht mehr gehen können. Der Gipfel kann mir gestohlen bleiben! Während ich über meinen Stöcken hänge und mich vorwärts ziehe, muss ich daran denken, wie schlecht es mir vor Jahren im Spital von Maralal erging. Damals konnte ich vor Schwäche, verursacht durch die Malaria, kaum auf die Toilette und musste gestützt werden. 50 Meter sahen für mich wie viele unüberwindbare Kilometer aus. Damals half mir auch eine Pause nichts, denn es wurde nicht besser. Heute dagegen kann ich nach zwei Minuten Pause zumindest geringe Kräfte mobilisieren. Während ich meinen damaligen Zustand in Erinnerung hole, fühle ich mich etwas besser. Und dennoch: So leiden musste ich in der Schweiz noch nie! Auch Hans geht es nicht gut, denn er schwankt ständig hin und her. Wir machen wieder Pause. Der Führer ist nicht sehr begeistert, denn er friert genauso wie wir. Als wir weiter wollen, bemerke ich, dass er fast eingeschlafen ist. Ich bin sofort hell wach und rüttle ihn am Arm. Er öffnet die Augen, sagt »yes, yes« und läuft weiter. Ich beginne zu zweifeln, ob ein Führer für uns beide wirklich ausreichend ist. Was ist, wenn ihm etwas zustößt oder einer von uns schlapp macht? Ich darf nicht so weit denken. Erneut frage ich ihn, wie weit es noch bis Stella Point sei. Er antwortet: »Für mich etwa sechs Minuten, aber ich weiß nicht, wie lange es mit euch dauert!« Na ja, dann kann es sich ja nicht mehr um Stunden handeln. Mit letzter Kraft reiße mich noch einmal zusammen. Ich denke an das enttäuschte Gesicht meiner Tochter, wenn ich ihr sagen muss, dass ihre Mama es nicht bis zum Gipfel geschafft hat. Obwohl man sich weiß Gott nicht schämen musste, denn es ist die reinste Qual, jedenfalls für uns. Für Messner & Co, die sozusagen auf diesen Höhen erst picknicken, wäre das hier sicherlich nur ein Spaziergang. Wieder Rast, wieder aufrappeln und weiterschleppen! Hans schaut auf den Höhenmesser und erklärt, es seien noch etwa 100 Höhenmeter bis zum Stella Point. Ich kann es nicht glauben, dass es immer noch so lange dauern soll! Der Führer nimmt uns den Rucksack ab und sofort atmet es sich etwas besser. Wir kämpfen uns weiter. Plötzlich reicht uns der Führer neben einem großen Stein die Hand und sagt: »Congratulation, you have reached Stella Point.« Ich bin platt. Wir sind am Stella Point angekommen, der von seinem Aussehen her eigentlich nichts Besonderes darstellt. Der Höhenmesser hat sich fast um 100 Meter geirrt! Als ich mich umdrehe, bemerke ich den Sonnenaufgang. Zum ersten Mal seit über sechs Stunden sehen wir etwas anderes als schwarzen Steinboden und Dunkelheit. Dieser tiefrote Streifen ist eine kleine Emotion wert, doch sie reicht nicht aus, um den Fotoapparat unter den diversen Jacken hervorzuziehen. Hier ist es nun kälter als je zuvor. Irgendwie klebe ich mir zusätzlich die Regenüberhose an, obwohl nichts zusammenpassen will. Hauptsache, es wärmt. Hans wiederholt ständig: »So schlecht, wie ich mich fühle, kann das hier oben nicht gesund sein!« Mir geht es eigentlich nicht schlecht. Ich spüre keine Übelkeit und keine Kopfschmerzen. Aber ich fühle einfach nichts. Ich bin innerlich hohl und empfinde keine Regung mehr. Der Führer drängt weiter. Ich höre Hans sagen: »Komm, lass uns weitergehen! Jetzt, wo wir schon mal hier sind, schaffen wir den Rest auch noch.« Nachdem er das in seiner schlechten Verfassung so optimistisch sagt, muss auch ich einfach weiter. Später bin ich ihm dankbar. Ohne den wankenden Hans vor mir hätte ich wohl bei Stella Point den Sinn für das Ganze verloren.

Allmählich wird es heller und wir sehen rechts neben uns den Krater, an dessen Rand wir nun hoch laufen. Mich auf die Stöcke stützend schleppe ich mich voran. Langsam taucht links vor uns eine riesige Gletscherwand auf. Schneeweiß leuchtet sie vor dem rosa Himmel. Ich setze mich an den Rand und mein Verstand sagt mir, dass dies ein schönes Foto wäre. Als der Führer sieht, dass ich den Apparat nicht aus der Tasche bringe, hilft er mir und macht auch gleich das erste Bild. Es ist kurz nach sechs Uhr und die Sonne geht nun relativ schnell auf, während wir uns am Kraterrand entlang nach oben kämpfen. Hans schwankt heftiger und ich mache mir ernsthafte Sorgen. Der Führer ist sicher zehn Meter vor uns. Wir müssen uns nun direkt neben dem Krater um einen kleinen Felsvorsprung zwängen. Plötzlich bin ich hellwach und rufe Hans zu: »Pass auf und halt dich am Felsen fest!« Doch es ist zu spät. Er stürzt rückwärts der Länge nach hin. Mit zwei Schritten bin ich bei ihm und halte ihn fest, während er mit dem Oberkörper über dem Krater hängt. Der Führer eilt ebenfalls herbei und stellt ihn wieder auf die Beine. Nun lässt er ihn, bis wir oben sind, nicht mehr los.

Vor einem zartrosa Hintergrund werden die Eiswände immer höher und weißer. Auf einmal höre ich mich weinen. Ich weine vor mich hin und erkenne meine Stimme wieder nicht. Ich habe keinerlei Kontrolle über meine Tränen und kann mir den Grund nicht erklären. Ist es Erschöpfung? Oder dieser Anblick? Oder einfach das Bewusstsein, dass ich hier oben auf dem Dach von Afrika angekommen bin? Ich weiß es nicht. Ich höre den Führer sagen: »Weine nicht, du verlierst sonst zu viel Energie!« Doch es gelingt mir nicht, die lauten, dunklen Schluchzer zu unterdrücken, bis ich endlich oben am Uhuru Peak stehe. Es ist sieben Uhr, als uns der Führer zum Erreichen des Gipfels gratuliert. Auch er ist erschöpft, obwohl er schon über 100 Mal hier oben war.

Außer uns befinden sich weitere sechs Personen auf dem Berg. Ich setze mich neben das Gipfelschild und ziehe meine Regenhose aus, damit ich ein anständiges Foto machen kann. Der Führer mahnt, wir sollen uns beeilen, denn wir müssen schnell wieder hinunter, da Hans sich nicht wohl fühlt. Mit seinen halb erfrorenen Händen macht er einige Fotos von uns. Automatisch knipse ich ein paar Bilder von der Umgebung und warte immer noch auf die großen Emotionen, die sich aber nicht einstellen wollen. Nicht einmal meine ursprüngliche feste Absicht, von hier oben in mein geliebtes Kenia hinüberzuschauen, kommt mir in den Sinn. Ich fühle mich nur leer, wie eine Hülle, wie ein Zombie.