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Corinne, ich gehe am 10. Dezember nach Barsaloi zurück und bin wirklich sehr traurig, weil mein

Bruder mir kein Geld gegeben hat außer für den Weg nach Hause. Ich weiß nicht, was ich für die Schule und für Mama mitnehmen kann. Es war das letzte Mal in meinem Leben, dass ich Lketinga besucht habe. Ich habe im Shop immerhin noch 12.000 Kenia-Schillinge eingenommen, aber er hat alles aufgebraucht. Er ist immer gekommen und hat gesagt, er werde es zur Bank bringen, aber er hat es für Bier und Miraa ausgegeben. Corinne, das ist die traurige Wahrheit.

Wie du mir gesagt hast, werde ich mein eigenes Bankkonto eröffnen, damit du mir etwas schicken und mir und meiner Familie helfen kannst. Ich werde nach Barsaloi gehen und Richard um einen Kredit bitten, um das Konto eröffnen zu können. Ich werde dir dann die Nummer mitteilen.

Das Leben meines Bruders wird, wie ich das sehe, wahrscheinlich sehr kurz sein. Seit du ihn verlassen hast, bin ich nicht mehr gerne mit ihm zusammen, denn er hilft nicht, obwohl er derjenige ist, der doch jetzt etwas hat. Unserer Mutter werde ich berichten, was du mir geschrieben hast und dass ich ein Bankkonto eröffnen soll, damit du uns helfen kannst. Ich will ihr auch erzählen, welche Probleme mein Bruder mir machte. Ich werde in Barsaloi die wenigen Ziegen verkaufen, damit ich das Geld für die Schule mitnehmen kann. Über die Probleme meiner Familie weiß ich jetzt nichts zu schreiben, denn ich lerne ja immer noch in der Schule und habe sie lange nicht mehr gesehen. Bitte schicke uns einige Fotos von Napirai und der Familie.

Ich wünsche euch allen ein glückliches Neues Jahr

Dein James

Der Brief macht mich wütend. Ich lese ihn ein zweites Mal und stelle dabei fest, dass ein vorheriger Brief bei mir offensichtlich nicht angekommen ist. So weiß ich immer noch nicht, wie die Menschen in Barsaloi auf unsere Ausreise reagiert haben und wie James das Geld für die Fahrt nach Mombasa bekommen hat. Auch schließe ich daraus, dass er nicht zu Hause in Barsaloi war, sondern gleich nach dem Ende der Schule von Eldoret nach Mombasa gefahren ist. Was mich aber richtig wütend macht, ist die Tatsache, dass Lketinga nach allem, was James für ihn getan hat, ihm nicht einmal sein Schulgeld mitgeben wollte. Er kam auf meinen Wunsch nach Mombasa, um Lketinga zu helfen und beizustehen, und der lässt ihn einfach im Stich. James ist doch sein kleiner Bruder!

Ich weiß, wie verschieden die beiden sind. James ist etwa 13 Jahre jünger, das genaue Geburtsjahr kennt er nicht. Wie alle anderen wurde auch er vom Distrikt-Officer nur ungefähr eingeschätzt. Keiner kennt seinen tatsächlichen Geburtstag. Der große Unterschied zwischen den beiden besteht darin, dass James zur Schule geht, Lketinga aber nie eine solche besucht hat. Sie scheinen aus zwei völlig verschiedenen Welten zu kommen.

Lketinga, der bis vor kurzem den Status eines Kriegers inne hatte, kann nicht lesen und schreiben und ist im Busch mit den alten Ritualen und Bräuchen aufgewachsen. James dagegen besucht als Jüngster und Einziger der Familie seit seinem siebten Lebensjahr die Schule, die durch die Mission finanziert wird. Bei Meinungsverschiedenheiten hörte ich Lketinga oft sagen: »Ach, das sind doch keine richtigen Männer mehr, die waren nie im Busch, stattdessen sitzen sie nur in der Schule herum. They don't know about life!«

Von James und den anderen Schuljungen dagegen hörte ich: »Weißt du, das kannst du nicht mit diesen Leuten besprechen. Die verstehen dich überhaupt nicht, weil sie nichts von der Welt wissen. Sie kennen nur den Busch und das Überleben mit ihren Tieren. Sie wissen nicht, was in der Welt draußen passiert.«

Es kam mir manchmal vor, als wären sie sich ganz und gar fremd. Trotzdem habe ich angenommen, dass Lketinga seinem Bruder zumindest in einer solchen Situation vertraut und hilft.

Die durch den Brief ausgelöste Wut treibt mich erneut zum Handeln. Über den internationalen Auskunftsdienst lasse ich mir die Telefonnummer des Inders heraussuchen und nehme Kontakt zu ihm auf. Er ist sehr überrascht von meinen Erzählungen und der Tatsache, dass ich nicht mehr zurückkommen werde. Lketinga habe ihm erst vor ein paar Tagen gesagt, dass ich im Urlaub sei und bald wieder zurückkäme. Er bedauert meinen Entschluss, doch ist er damit einverstanden, mit Lketinga die Verhandlung für die Shopübergabe aufzunehmen, da er ohne mich auch keine Überlebenschance für den Laden sieht. Ich bedanke mich und bin erleichtert, dass wenigstens hinsichtlich des Shops keine Probleme mehr auf Lketinga zukommen werden. Was er mit dem vielen Geld machen wird, weiß ich nicht. Ich kann nur hoffen, dass er nicht alles für Bier und Miraa ausgibt. Sofort teile ich James das Vereinbarte in einem Antwortbrief mit.

Die ganze Aufregung hat aber auch etwas Gutes. Hier in der Schweiz sitze ich nur untätig herum und warte auf den Bescheid von der Fremdenpolizei. Doch wenn es um Kenia geht, habe ich keine Hemmungen und handle mit erstaunlicher Kraft. Auf diese Weise wächst mein Selbstvertrauen und der Wunsch, wieder zu arbeiten. Meine neue Umgebung ist mir nicht mehr ganz so fremd, und langsam nehme ich wieder an Gewicht zu. Ich versuche häufiger, normales Essen statt Diätkost zu mir zu nehmen und stelle glücklich fest, dass ich von Woche zu Woche weniger Probleme mit dem Magen habe.

Kurz vor Weihnachten genießen Napirai und ich den ersten Schnee. Es ist zwar enorm kalt, doch mittlerweile stört es mich nicht mehr. Im Gegenteil, ich empfinde das Wetter hier mit einem Mal viel spannender als tagaus tagein den tiefblauen Himmel mit seiner sengenden Sonne, die die Vegetation verdorren lässt. Und wenn es nach monatelangem Sonnenschein dann endlich einmal regnet, ist alles überschwemmt und für Mensch und Tier besteht manchmal sogar Lebensgefahr. Nach diesen Erfahrungen kann ich mich über Regen, Schnee und sogar den Nebel wieder freuen.

Ein paar Tage vor Weihnachten gehen wir mit meiner Mutter auf eine Einkaufstour nach Rapperswil. Es ist unglaublich, was in den Geschäften alles ausgestellt wird! Ich nehme mir vor, in Zukunft nur mit dem Nötigsten auskommen zu wollen. Diesen Überfluss braucht man doch nicht wirklich! Zufällig treffe ich meinen ehemaligen Chef aus der Zeit, als ich meine erste Anstellung im Außendienst bei einer Versicherungs-Gesellschaft hatte. Ich war damals bei ihnen mit 20 Jahren die erste Frau im Außendienst und hatte viel Erfolg. Nach nur zwei Jahren hatte ich genug Geld gespart, um mich mit einem Brautkleidergeschäft selbstständig zu machen. Die Idee, mit Neu- und Secondhand-Kleidern zu handeln, gefiel mir so gut, dass ich den Sprung in die Selbstständigkeit wagte. Er hingegen bedauerte meinen Entschluss sehr. Nun steht er mir plötzlich gegenüber und staunt über meine Erzählungen und Erlebnisse. Zum Schluss gibt er mir seine Karte und meint, er würde mich jederzeit wieder einstellen, ich müsse ihn nur anrufen. Nachdem wir uns verabschiedet haben, strahle ich meine Mutter an und sage: »Siehst du, wie schnell ich wieder Arbeit finden würde!«

Auch wenn ich nicht im Sinn habe, gleich wieder in diese Branche einzusteigen, so hat mir die Unterhaltung doch sehr gut getan. Mein Selbstbewusstsein hat einen ersten großen Schub bekommen. Schließlich war es das erste Gespräch mit einem Mann, zudem mit einem, der mich aus einer Zeit kannte, in der ich vor Selbstvertrauen strotzte. Und dann gleich dieses Angebot! Wie ernst auch immer es gemeint ist, ich schwebe im siebten Himmel, allein schon deshalb, weil er mir etwas zutraut. Ich teile meiner Mutter mit, dass ich nach den Feiertagen bei der Fremdenpolizei nachfragen werde, wie es nun mit uns weitergeht, da auch bald meine dreimonatige Aufenthaltsgenehmigung abgelaufen sein wird. Sie ist eher dafür, dass ich mich ruhig und abwartend verhalten soll.