Ich freue mich darauf, wieder einmal ein richtiges Weihnachtsfest zu feiern mit Schnee und Kälte und allem, was dazu gehört. In Kenia kam nie Weihnachtsstimmung auf, weil es um diese Zeit meist unerträglich heiß war. Das Einzige, was mich dort an das Fest erinnerte, waren die älteren Menschen in Barsaloi, die zur Mission pilgerten, um ihre neuen Wolldecken und etwas Maismehl abzuholen. Die, die regelmäßig in die »Buschkirche« gingen, bekamen am Ende des Jahres diese Geschenke, was Mama sich natürlich nicht entgehen ließ. Innerlich schmunzelnd beobachtete ich sie jedes Mal, wenn sie ihren berechnenden Gang zur Mission antrat.
An Heilig Abend kommt nahezu unsere ganze Familie zusammen, weil meine Mutter am Weihnachtstag auch noch ihren Geburtstag feiert. Nur Eric, mein jüngerer Bruder, wird mit seiner Frau Jelly erst zwei Tage später kommen, da sie mit ihren beiden Söhnen bei sich zu Hause feiern wollen. Unter dem Weihnachtsbaum stapeln sich die Geschenke für mein Mädchen. Alle wollen sie beschenken. Napirai kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Sie reißt ein Päckchen nach dem anderen auf und weiß gar nicht, womit sie zuerst spielen soll. Mir wird es zu viel, denn genau das wollte ich verhindern.
Zwei oder drei Päckchen wären mehr als genug gewesen. Wo sollen wir auch hin mit all diesem »Zeug«? Napirai ist ohnehin am zufriedensten, wenn ich mit ihr auf einen Spielplatz gehe, auf dem sie mit anderen Kindern spielen kann.
Dann aber genieße ich es doch sehr, mit meiner Familie an einem wunderschön gedeckten Tisch zu sitzen und unser traditionelles Fondue Bourguignonne zu verspeisen. Beim Anblick der Platte mit der eigentlich nicht unbeträchtlichen Menge Fleisch muss ich plötzlich lachen. Weil mich die anderen verwundert anschauen, erkläre ich ihnen den Grund meiner Heiterkeit: »Wenn jetzt Lketinga hier wäre, könnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass dieses kleine Fleischhäufchen hier für alle reicht. Er kann mit einem zweiten Krieger in einer Nacht locker eine mittlere Ziege verzehren.«
»Das wäre hier, allein schon wegen des Fleischpreises, nicht möglich«, meint Hanspeter schmunzelnd. Wieder kreisen meine Gedanken um Lketinga und ich versuche mir vorzustellen, was er jetzt wohl gerade macht.
Manche Tage schleichen dahin, andere wiederum vergehen im Nu. Auch Silvester ist solch ein endlos langer Tag. Wir feiern nicht groß, jeder hängt seinen Gedanken nach. Für die nächste Zukunft wünsche ich mir von ganzem Herzen, dass wir uns wieder in der Schweiz niederlassen können. Alles andere ängstigt mich nicht.
Anfang des neuen Jahres ruft mich der indische Ladenbesitzer an und erklärt, er wäre für eine Übergabe des Geschäftes bereit gewesen, aber Lketinga habe sich nun anders entschlossen und wolle weiterarbeiten. Jetzt erwarte er die dreimonatige Vorauszahlung für die Ladenmiete. Ich gebe ihm zu verstehen, dass er sich an Lketinga halten müsse. Ich habe bis Ende des Jahres bezahlt und jetzt sei Lketinga zuständig, wenn er den Shop weiterhin betreiben will. Ich habe keinen Einfluss mehr. Mein Geld sei in Kenia geblieben und alles sei meinem Mann überschrieben worden.
Der Gedanke, dass Lketinga den Laden weiterführen will, beunruhigt mich und ich hoffe sehr, dass er vielleicht eine gute Hilfskraft gefunden hat.
Genau drei Monate nach meiner Einreise in die Schweiz bekomme ich Post von der Fremdenpolizei. Mit klopfendem Herzen öffne ich den Brief, der vielleicht über mein zukünftiges Leben — vor allem in welchem Land -entscheiden wird. Aber schon nach den ersten zwei Sätzen stelle ich enttäuscht und auch etwas erleichtert fest, dass ich lediglich Auskünfte über all meine Familienmitglieder erteilen muss. Ich erledige dies in der gewünschten Genauigkeit und betone, dass die Gemeinde in keiner Art und Weise für mich aufzukommen habe, da ich bei anfallenden Schwierigkeiten von meiner Familie unterstützt würde. Außerdem hätte ich bereits konkrete Arbeitsangebote bekommen. Zuversichtlich schicke ich die Unterlagen weg. Meine Mutter ist traurig und meint, jetzt habe sie sich so an mich und Napirai gewöhnt, dass sie es nicht ertragen könnte, wenn wir erneut ins Ausland ziehen müssten. »Es wird schon alles gut gehen, sonst hätten sie mich nach diesen drei Monaten gleich weggeschickt«, versuche ich sie zu beruhigen.
Ende Januar ist es so kalt, dass der nahe gelegene Pfäffikersee vollständig zugefroren ist, was höchstens alle zehn Jahre vorkommt. So gehen wir, Napirai warm auf einen Schlitten gepackt, auf dem See spazieren. Ich beobachte die vielen Menschen, die sich ausgelassen mit den seltsamsten Gefährten über das Eis bewegen. Es ist wirklich verrückt! Noch vor drei Monaten war ich am Schwitzen und lebte in einer völlig anderen Welt und heute spaziere ich auf einem zugefrorenen See. Fast täglich, bei fast allem, was ich sehe oder tue, ziehe ich automatisch Vergleiche zu Afrika. Ich blicke in die fröhlichen Gesichter von Alt und Jung, und denke daran, wie verschlossen die meisten von ihnen im Alltag sind, obwohl sie doch alles haben. Genauso fällt mir auf, wie respektlos viele jüngere Menschen mit den Alten umgehen. Vor meinem Leben in Afrika war mir dies nicht bewusst. Aber jetzt muss ich daran denken, wie es bei den Samburu ist. Dort wächst das Ansehen mit dem Alter. Die Schönheit verblüht, doch dafür wird man mehr respektiert. Je älter jemand ist, egal ob Mann oder Frau, desto gewichtiger sind seine Entscheidungen. Die Jüngeren tun nichts ohne den Segen der Alten. Wenn James in den Ferien von der Schule nach Hause kam, senkte er bei der Begrüßung der Mutter den Kopf und schaute sie nicht direkt an. Erst allmählich beim Erzählen warf er ab und zu einen kurzen Blick auf sie. Eine Massai-Großmutter ist meistens von einer Kinderschar umgeben und wird von jeder vorbeigehenden Person, ob Mann oder Frau, jung oder alt, bekannt oder unbekannt, begrüßt und unterhalten. Meiner Schwiegermama ist es nie langweilig, obwohl sie doch den ganzen Tag nur unter dem Baum vor ihrer Hütte sitzt.
Und wie ist es hier in der Schweiz? Ich nehme wahr, wie viele einsame Menschen in den Cafes oder Restaurants herumsitzen. Keiner bemerkt sie oder unterhält sich mit ihnen. Man hat materielle Dinge im Überfluss, aber Zeit füreinander und ein sozialer Zusammenhalt fehlen. Dafür kann hier fast jeder irgendwie alleine überleben. Bei den Massai in Kenia dagegen wäre das unvorstellbar.
Wir kehren nach dem Spaziergang auf dem Eis zurück und ich finde einen Brief von James vor, den er am 12. Januar geschrieben hat. Ich bin aufgeregt, weil er mir nun sicher über zu Hause und von Mama berichten wird.
Liebe Corinne und Familie
Mit großer Dankbarkeit habe ich heute deinen ausführlichen Brief erhalten. Ich habe die Fotos von Napirai, deiner Mutter und von dir angeschaut und war sehr glücklich, als ich euch sah. Ich brachte die Fotos zu Mama und sie weinte, aber ich beruhigte sie, indem ich ihr sagte, dass du hoffentlich kommen wirst, wenn ich die Schule beendet habe. Allen Leuten hier gefällt es, dich und Napirai auf den Fotos zu sehen. Ich habe der Familie berichtet, dass du nur wegen Lketinga weggegangen bist. Und sie hatten den Beweis, als ich ohne etwas für sie nach Hause kam. Sie sagten, lass ihn ruhig dort bleiben und hoffen, dass ihm bald nichts übrig sein wird von dem, was du ihm zurückgelassen hast. Corinne, ich werde nicht noch einmal nach Mombasa gehen, denn sonst bekomme ich wieder die Probleme, von denen ich dir geschrieben habe. Es ist gut, dass du den Shop verkauft hast, so dass nicht alles verloren geht. Wenn Lketinga heimkommen sollte, werde ich ihm helfen. Am 12. fahre ich von Maralal aus zur Schule. Richard hat mir geholfen und für mich ein Bankkonto in Maralal eröffnet. So kannst du uns dorthin Geld schicken, wenn du willst.