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Der erste Arbeitstag vergeht wie im Flug. Wir haben ausgemacht, dass ich eine Woche im Laden eingearbeitet werde, um die Produkte und die verschiedenen Muster und deren Namen kennen zu lernen. Alles ist neu und aufregend. Erst im Auto auf dem Nachhauseweg merke ich, wie müde ich plötzlich bin. Ich könnte auf der Stelle einschlafen. Während ich mit meiner Müdigkeit kämpfe, kommt mir der Arzt des Krankenhauses in Wamba in den Sinn. Er sagte mir damals, auf Grund meiner schweren Hepatitis werde ich lange Zeit nicht mehr arbeiten können und auch nach Jahren wahrscheinlich nur mit halber Kraft, denn mein körperlicher Gesamtzustand sei völlig desolat und es würde viel Zeit vergehen, bis meine Abwehrkräfte wieder aufgebaut seien. »Das ist sicher nur die Umstellung«, versuche ich mich zu beruhigen und die Erinnerung an meine damaligen Krankheiten zu verdrängen.

Zu Hause empfängt mich Napirai ungeduldig und zerrt wie üblich an meiner Bluse. Ich habe immer noch relativ viel Milch und die Brüste sind gespannt, was mich im Laufe des Tages immer wieder gestört hat. So beschließe ich schweren Herzens, in den nächsten Tagen langsam abzustillen. Alles sei bestens gelaufen, beruhigt mich meine Mutter. Nur nach dem Mittagsschlaf hätte Napirai kurz geweint, weil sie meine Brust nicht hatte. Sie kennt weder Schnuller noch Fläschchen und jetzt noch damit anzufangen, halte ich für Unsinn. Für einen kleinen Moment meldet sich in mir ein schlechtes Gewissen, denn ich bin nicht gewohnt, dass Napirai weint, außer wenn sie sich körperlich wehgetan hat. In Kenia hört man selten Kinder weinen und schon gar nicht quengeln, wie es mir hier in letzter Zeit häufig aufgefallen ist.

Der einwöchige Einführungskurs bekommt mir gut. Ich habe mit verschiedenen Leuten zu tun und mein Selbstvertrauen, das anscheinend nur ich als unterentwickelt empfinde, wächst von Tag zu Tag. Zum ersten Mal seit meiner Rückkehr spüre ich, dass ich auch als Frau wahrgenommen werde. Allzu lange habe ich mich nur noch als Mutter gesehen. Nun aber, wenn ich in den Mittagspausen in das nahe gelegene Restaurant zum Essen gehe, fällt mir der eine oder andere anerkennende Blick auf. Einmal überlege ich für einen kurzen Moment, wann ich das letzte Mal Sex hatte und stelle fest, dass ich es nicht mehr so genau weiß. Bei meinem Mann und mir stand Sexualität nicht im Mittelpunkt. Obwohl ich ihn sehr erotisch fand, musste ich schon zu Beginn unserer Beziehung zur Kenntnis nehmen, dass bei den Samburu weder geküsst noch gestreichelt wird. Sex ist bei ihnen kein Spiel, sondern dient ausschließlich der Fortpflanzung und allenfalls der männlichen Befriedigung. Einen Orgasmus der Frau kennen sie nicht. Ein Grund hierfür ist unter anderem auch die schreckliche Beschneidung der Mädchen. Diese grausame Verstümmelung der weiblichen Genitalien werde ich nie begreifen. Selbst Lketinga konnte es sich kaum erklären, warum den Frauen so etwas angetan wird. Die kurze Dauer der Liebesakte zwischen uns störten mich bald nicht mehr, denn ich liebte meinen Mann aus tiefstem Herzen und war lange Zeit einfach nur glücklich, bei ihm leben zu können.

Während ich die Männer im Restaurant betrachte, gelingt es mir nicht, mir eine Beziehung oder gar Sex vorzustellen. Der Gedanke, mich nach mehr als fünf Jahren mit einem »Weißen« einzulassen, erfüllt mich mit Furcht und überfordert offensichtlich meine »stillgelegten« Fantasien. Oder liegt es nur daran, dass ich einfach nicht verliebt bin und wichtigere Aufgaben habe? Dennoch stelle ich fest, dass mir die ungewohnte Aufmerksamkeit gut tut, und so genieße ich sie während der kurzen Mittagszeit aus gesicherter Distanz, zumal sie nicht aufdringlich ist.

Als ich Napirai zum ersten Mal bei der Tagesmutter abgeben muss, zerreißt es mir fast das Herz. Ihre Mundwinkel beginnen zu zittern und ihre dunklen Augen füllen sich mit Tränen. Weinend stammelt sie immerzu »Mamaaaa« und streckt ihre Ärmchen nach mir aus. Die Pflegemutter nimmt Napirai auf den Arm und spricht beruhigend auf sie ein, während sie liebevoll ihre Löckchen streichelt. Sie wird es hier gut haben, spüre ich bei diesem Anblick erleichtert und gehe dennoch schweren Herzens arbeiten. Erst im Geschäft werde ich durch die neue Aufgabe abgelenkt. Heute fange ich an, telefonisch Termine zu vereinbaren. Es ist nicht einfach, das Interesse der zuständigen Personen zu gewinnen, doch bis zum Abend stehen einige wenige Termine fest. Sofort nach der Arbeit fahre ich zur Pflegefamilie und stürme förmlich in meinen Stöckelschuhen die drei Stockwerke hoch. Napirai öffnet mit ihrer Ersatzmami die Tür und an ihrem verschmierten Gesichtchen ist zu erkennen, dass sie wohl gerade Abendbrot gegessen hat. Sie stürzt nicht mehr sofort auf meinen Pulli los, sondern nimmt meine Hand und zieht mich plappernd in das Zimmer, in dem die beiden Kinder offenbar bis vor kurzem gespielt haben. Sie wirkt fröhlich und zufrieden und mir fällt ein Stein vom Herzen. Als wir nach Hause zu meiner Mutter kommen, gibt es ein großes Hallo, denn es war das erste Mal, dass Napirai so lange von ihr fort war.

Meine Mutter überreicht mir zwei Briefe aus Kenia. »Oh, gleich zwei«, staune ich und nehme an, der zweite sei von Sophia. Im ersten schreibt James, dass er sich sehr freut, weil wir uns in der Schweiz ansiedeln dürfen. Alle hätten für uns gebetet und nun hätte es genützt. Auch bedankt er sich im Namen von Mama für das Geld, das sie durch die Mission bekommen habe. Es ist ein liebevoller Brief und ich bin froh, dass alles so gut klappt. Der zweite, laut Briefkopf schon vor drei Wochen geschrieben, ist von Lketinga. Ich bin sehr überrascht, denn es ist das erste Lebenszeichen von ihm seit unserem Telefonat vor einem halben Jahr.

Liebe Corinne Leparmorijo

Jambo! Wie geht es dir, meine Frau? Ich hoffe, du bist okay. Mir geht es gut, aber ich vermisse dich und meine Tochter sehr. Ich hoffe, du hast gehört, dass mein Auto gebrannt hat, aber ich weiß nicht, wie es passiert ist. Eine Seite war ganz kaputt. Die meisten Probleme habe ich mit dem Shop, in dem ich noch arbeite. Seit du im Oktober zurückgegangen bist, haben wir kein Geschäft mehr gemacht. Ich habe die Shop-Miete nicht bezahlt, nur die Hälfte vom Februar, 5.000 Kenia-Schillinge. So warte ich, um im Mai 21.000 Ksh zu zahlen. Wegen der Golfkrise machen wir kein Geschäft. Alle haben diesen Ort verlassen. Den Indienshop gibt es nicht mehr. Geblieben sind nur Doktor Kulumba und das chinesische Restaurant. Ich habe jetzt das Auto verkauft und dafür einen kleinen Toyota Saloon gekauft.

Ich habe es für 80.000 Ksh verkauft, aber die Person, die es gekauft hat, hat nie alles bezahlt, sondern nur 67.000 Ksh. Deshalb, bitte, darfst du mich nicht vergessen. Schicke mir Geld, damit ich die Shop-Miete bezahlen kann. Ich fahre jetzt Taxi für die Touristen, die noch kommen. Ich hoffe, du bekommst einige Briefe von meinem Bruder, oder nicht?

Wir haben viel Regen in Mombasa. Es ist jetzt unser Winter. Viele Grüße von den Kamau-Massai, sie vermissen dich und Napirai. Sie nennen mich immer Papa Napirai. Dann erinnere ich mich so sehr an meine Tochter. Wenn ihr nicht zurückkommt, lass es mich wissen, dann will ich meiner Tochter ihre Kleider und Puppen schicken. Schreibe mir, was du jetzt machst. Arbeitest du oder bist du nur bei deiner Mama zu Hause? Ich wollte nicht, dass Priszilla für mich schreibt, weil sie nie schreiben will, was ich sage. Sie schreibt nur nach ihrem Kopf. Deshalb hat mir bei diesem Brief ein Freund geholfen.

Viele Grüße an meine Tochter. Ich vermisse sie und ihre Liebe zu mir. Ich vermisse euch beide.

Viele Grüße an die ganze Familie

Lketinga Leparmorijo

Meine erste Reaktion auf den Brief ist Wut. Ich verstehe nicht, dass er mich um Geld bittet, nachdem ich ihm alles, was ich hatte, überlassen habe. Für kenianische Verhältnisse war er vor einem halben Jahr steinreich. Andererseits ist mir auch klar, dass er den Laden nicht allein organisieren kann. Noch einmal lese ich den Brief und werde sehr traurig. Ich spüre, dass er uns wirklich vermisst und uns auch brauchen würde. Bilder tauchen in mir auf und mir gehen die schönen Zeiten durch den Kopf, als wir glücklich durch den Busch gezogen sind. Ich sehe Lketinga vor mir, wie er mir stolz alle Wurzeln und Sträucher erklärte, wie er mir am Fluss, abgeschirmt von neugierigen Blicken, zärtlich den Rücken wusch, mit einer Engelsgeduld meine Haare einseifte und sie mit dem spärlichen Flusswasser mit Hilfe einer Dose ausspülte. Wie er besorgt nach Essen suchte, als ich krank und schwach war. Oder wie er mich auch bei den größten Problemen anstrahlte und sagte: »No problem, my wife.« Immer mehr verliere ich mich in positiven Erinnerungen, während die vielen schrecklichen Szenen im Hintergrund verschwimmen. Doch wenn ich meinen Verstand gebrauche, weiß ich, dass es ein Zurück nicht geben kann. Ich würde mein Leben wegwerfen!