Eines steht fest: Ich kann und will ihm nicht helfen, denn ich habe kein Geld mehr übrig. Ich bin gespannt, was Madeleine mir berichten wird, wenn sie aus dem Urlaub zurück ist.
Sonntag Abend ruft sie mich an und hat eine schlechte und eine gute Nachricht. Der Urlaub habe ihr sehr gefallen und sie sei traurig, dass alles schon wieder vorbei ist. »Hast du Lketinga den Brief gegeben?«, frage ich dazwischen. »Nein, ich war zwei Mal beim Laden, aber er war immer geschlossen. Überhaupt wirkt dort alles wie ausgestorben und in deinem ehemaligen Geschäft befinden sich nur noch wenige Artikel. Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass dort noch gearbeitet wird«, erzählt sie mir. Es gibt mir doch einen Stich ins Herz, dass das, was ich mit mühevoller Arbeit aufgebaut habe, so heruntergewirtschaftet wurde. Sophia habe sie nicht angetroffen, aber erfahren, dass sie verreist sei. Ich bin etwas enttäuscht, dass sie mir nicht mehr berichten kann, aber zumindest weiß ich nun, dass das gewünschte Geld für den Shop nicht mehr nötig ist.
Nun aber kommt die erfreuliche Nachricht, die mein jetziges Leben betrifft. Sie habe gehört, dass im gegenüber liegenden Block eine Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung frei würde, die vielleicht noch nicht vergeben ist. Die Aussicht, unter Umständen eine Wohnung in meiner Traumsiedlung erhalten zu können, elektrisiert mich. Sofort setze ich mich hin und schreibe an die Verwaltung einen langen Brief, in dem ich meine Situation schildere.
Ich bitte um eine Chance für mich und meine Tochter Napirai. Zwei Tage später rufe ich an. Die Sachbearbeiterin kann sich gleich an mein Schreiben erinnern, meint aber, es gäbe eine lange Warteliste. Nachdem ich ihr noch einmal eindringlich meine besondere Notlage geschildert habe, bittet sie mich freundlich, ihr eine Nacht Bedenkzeit zu lassen, sie werde mir morgen Bescheid geben. Wieder folgt ein Stoßgebet zum Himmel. Auch meine Mutter ist aufgeregt und schlägt vor: »Lass uns schnell dort hinfahren! Schließlich möchte ich sehen, wofür ich beten soll.« Wir sind begeistert, als wir den Gartensitzplatz sehen. Napirai könnte dort auf dem Rasen spielen und im Sommer würden wir ein Planschbecken für sie aufstellen. Schon schmieden meine Mutter und ich Pläne. Es wäre zu schön, wenn ich diese Wohnung bekäme!
Am nächsten Tag stehen meine ersten Außendienstbesuche an. Mit zwei beladenen Taschen erscheine ich bei verschiedenen Firmen und zeige die Krawatten und Foulards. Soforterfolge gibt es leider keine, da alle erst das Firmenbudget für Werbegeschenke abklären müssen. Ich solle mich in drei bis vier Wochen wieder melden. Obwohl fast jeder der Kunden für sich persönlich etwas kauft, bringt das natürlich noch nicht den erhofften Umsatz und die damit verbundenen Provisionen. Na ja, es sind meine ersten Versuche und mir ist klar, dass ich viel Aufbauarbeit leisten muss.
Am Abend sitzen wir nervös beim Essen und warten auf den Anruf der Wohnungsverwaltung. Langsam verstreicht die Zeit und meine Hoffnung beginnt bereits zu schwinden, als es kurz vor zehn klingelt. Tatsächlich, es ist die nette Dame von der Wohnungsverwaltung. Sie entschuldigt sich für den späten Anruf und fragt mich, ob ich denn schon eine Arbeit hätte und welche. Ich bin sofort wieder hellwach und gebe freudig Auskunft. Dann höre ich einen tiefen Atemzug und sie sagt: »Gut, ich mache bei Ihnen eine Ausnahme, denn seit ich Ihren Brief gelesen habe, gehen Sie und Ihre Tochter mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich werde Ihnen den Vertrag zustellen. Den genauen Einzugstermin kann ich Ihnen allerdings noch nicht mitteilen, weil die Erben der verstorbenen Vormieterin noch einiges regeln müssen.« Mit Tränen in den Augen bedanke ich mich und kann mein Glück kaum fassen. Sogar meine Mutter glaubt langsam: »Trotz allem bist du wirklich ein Glückspilz, ich gratuliere dir. Aber jetzt werden eine Menge Ausgaben auf dich zukommen.« Ich entgegne, dass ich doch nur das Nötigste zum Leben brauche. Sofort rufe ich Madeleine an und gemeinsam freuen wir uns auf meinen baldigen Einzug. Da ich keine Möbel besitze, wird der Umzug leicht zu bewerkstelligen sein.
Ein paar Tage später ruft mich ein mir unbekannter Mann an. Es stellt sich heraus, dass es ein Sohn der Vormieterin ist. Er hätte durch die Verwaltung von meiner Geschichte erfahren und wolle mir einen Vorschlag unterbreiten. »Ich habe gehört, dass Sie in die Wohnung meiner verstorbenen Mutter ziehen werden, und soviel ich weiß, besitzen Sie nichts, weil Sie gerade aus dem Ausland zurückgekommen sind. Nun möchte ich Ihnen vorschlagen, sich die Wohnungseinrichtung anzuschauen. Was Sie haben möchten, können Sie übernehmen. Den Rest lasse ich vom Sperrmüll abholen. Als Gegenleistung müssten Sie die Endreinigung übernehmen. Ist Ihnen das recht?« Ich bin überwältigt und gerührt. Dankend nehme ich an und wir vereinbaren einen Besichtigungstermin. Langsam wird mir mein Glück fast unheimlich. Zur Besichtigung kommt meine Mutter als Beraterin mit. Als ich die Wohnung betrete, bin ich sofort begeistert und weiß, dass wir uns hier wohl fühlen werden. Nach meinen kenianischen Hüttenbehausungen erscheinen mir das große helle Wohnzimmer, das Schlafzimmer, die offene Küche und das kleine Bad wie ein Palast. Die Möblierung ist zwar etwas altmodisch, aber mich stört das überhaupt nicht, da alles sauber und gepflegt aussieht und sich mit etwas Geschick mehr Farbe hineinzaubern lässt.
Eine komplette Kücheneinrichtung, vom Porzellangeschirr mit Goldrand bis zur Bratpfanne, von der Knoblauchpresse bis zum Schneebesen, ist vorhanden und im Wandschrank im Korridor stapeln sich Handtücher und Bettwäsche. Schnell ist mir klar, dass ich hier einziehen und gleich wohnen kann. Es fehlen nur Napirais und meine Kleider. Und das alles, ohne einen Franken aus der Hand zu geben! Wieder danke ich dem lieben Gott für all das Glück, das ich in diesem letzten Monat erfahren durfte.
Während ich begeistert die Räume inspiziere, kommt mir plötzlich der Gedanke, dass mir mit dieser Wohnung eventuell etwas zurückgegeben wird. Bevor ich nämlich endgültig nach Kenia aufbrach, hatte ich eine ähnliche kleine Wohnung. Da ich überzeugt war, dass ich nie wieder zurückkehren würde, übergab ich die Wohnung mit der kompletten Einrichtung einem Studenten für den Preis meines Flugtickets. Auch er konnte damals sein Glück kaum fassen. Ich sehe den jungen Burschen, der das Technikum besuchen wollte, mit seiner Mutter noch vor mir, wie sie mich erstaunt fragten, ob ich wirklich nichts mehr brauche. »Nein, dort, wohin ich gehe, braucht man das alles nicht«, sagte ich lachend.
Und so betrachte ich das heute als »Retourgeschenk«. Ich bedanke mich nochmals bei dem netten Herren und erkläre ihm, wie unendlich viel leichter er mir mein Leben mit dieser Geste macht. Er wirkt fast verlegen und verabschiedet sich schnell. Auf der anderen Seite öffnet sich die Tür und meine zukünftige Nachbarin erscheint. Ich stelle mich vor und sage ihr, wie sehr ich mich freue hier einzuziehen. Als noch zwei Mädchen den Kopf zur Tür herausstrecken, ist mir klar, dass wir auch für Napirai das Paradies gefunden haben.
Die Arbeitswoche vergeht schnell und ich kann die ersten größeren und kleineren Erfolge verbuchen. In der letzten Nacht im Haus meiner Mutter kann ich vor Aufregung lange nicht einschlafen. So dankbar ich auch bin, dass ich hier Unterschlupf finden konnte, freue ich mich doch sehr auf meine Unabhängigkeit. Endlich werde ich mit Napirai eine eigene Wohnung haben, in der ich schalten und walten kann, wie ich will. Während ich meinen nächtlichen Gedanken nachhänge, kommt mir in den Sinn, dass ich schon einmal in einer ähnlichen Situation war. Als ich in Barsaloi mit Lketinga die letzte Nacht in Mamas beengter Hütte verbrachte, in der wir ein Jahr zusammen gelebt hatten, konnte ich vor Freude auf den Umzug in unsere eigene, neue, größere Manyatta ebenfalls kaum ein Auge zutun. Ich erinnere mich, mit welchem Stolz ich unsere neue Behausung mit den wenigen Sachen, die ich damals besaß, eingerichtet habe. Eine seltsame Begebenheit, die sich dabei ereignet hat, fällt mir auf einmal ein. Während ich meine Kleider verstaute, entdeckte ich an der getrockneten Kuhmistwand eine kleine graue Schlange. Erschrocken und mit einer Art Reflex erschlug ich das arme Tier mit einem Stein von der Feuerstelle. Als meine Schwiegermama am nächsten Tag davon erfuhr, schien sie nicht sehr begeistert zu sein. Lketinga erklärte mir dann, dass, wenn eine junge Frau beim Bezug ihrer Manyatta eine Babyschlange vorfinde, dies bedeuten würde, dass sie schwanger ist. Deshalb darf man diese kleinen Schlangen nicht töten. Mir tat das Missgeschick zwar sehr Leid, doch war ich mir sicher, dass meine Schlange keine Vorbotin einer Schwangerschaft war. Schließlich hätte ich ja davon etwas merken müssen. Ein paar Wochen später allerdings stellte sich heraus, dass ich genau zu diesem Zeitpunkt bereits schwanger war. »Eine Schlange wird uns morgen sicher nicht erwarten«, denke ich noch, bevor ich endlich einschlafe.